Parteiverrat und Interessenkonflikt beim Strafverteidiger

Der vorliegende Text geht auf einen Vortrag zurück den Rechtsanwalt Dr. Tobias Rudolph aus Nürnberg im Oktober 2018 bei der Arbeitsgemeinschaft für Streitkultur im Strafprozess (ASS) in Berlin gehalten hat.

Nähere Informationen über ein Verfahren gegen einen Nürnberger Strafverteidiger finden Sie hier.

Einen wissenschaftlichen Artikel zu der Thematik veröffentlichte Dr. Tobias Rudolph gemeinsam mit Dr. Oliver Gerson in der Zeitschrift „Strafverteidiger – StV“ unter dem Titel „Ist es ein Parteiverrat nach § 356 Abs. 1 StGB, wenn ein Mandant kein Kronzeuge sein will? – Zur Strafbarkeit der gleichzeitigen Verteidigung bei potenziellen Interessenkonflikten“, StV 2019, S. 210 ff.

Interssenkonflikt Strafverteidiger

A. Konflikte im Alltag eines Strafverteidigers

Der Tatbestand des Parteiverrats (§ 356 StGB) lautet:

(1) Ein Anwalt oder ein anderer Rechtsbeistand, welcher bei den ihm in dieser Eigenschaft anvertrauten Angelegenheiten in derselben Rechtssache beiden Parteien durch Rat oder Beistand pflichtwidrig dient, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.

(2) Handelt derselbe im Einverständnis mit der Gegenpartei zum Nachteil seiner Partei, so tritt Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu fünf Jahren ein.

Die Norm wird auch als „Hausdelikt der Anwaltschaft“ bezeichnet. Es handelt sich um ein sogenanntes Sonderdelikt, d.h. um eine Strafnorm, die nur von Rechtsanwälten oder ähnlichen Berufen begangen werden kann. Rechtsanwälte sind einseitige Parteivertreter. Sie haben sich für die Rechte ihrer Mandanten mit aller Kraft einzusetzen. Aus diesem Grund soll durch den Straftatbestand des Parteiverrates die „Rollenkonstanz des Rechtsbeistandes in der rechtlichen Interessenvertretung“ gesichert werden.

So edel und nachvollziehbar diese gesetzgeberischen Zwecke auch sind – der Straftatbestand birgt auch Risiken für einen fairen Rechtsstaat. Er kann bei falscher Auslegung als Druckinstrument des Staates eingesetzt werden, um kämpferische und unbequeme Rechtsanwälte, insbesondere Strafverteidiger, „auszuschalten“. Der Tatbestand des Parteiverrats wird daher auch als Symbol staatlichen Misstrauens gegen die Anwaltschaft kritisiert.

Bei der Anwendung der Strafnorm treten in der Praxis erhebliche Unsicherheiten auf. Neben einigen Streitfragen bezüglich der Auslegung fällt bei genauerer Betrachtung auch auf, dass bei der Anwendung des Straftatbestandes in unterschiedlichen Rechtsgebieten divergierende Maßstäbe angelegt werden. Bei Scheidungsanwälten, erbrechtlichen Beratungen und Mediatoren lässt sich, wie auch im Wirtschaftsstrafrecht, eher eine großzügige Tendenz erkennen. Demgegenüber besteht für Strafverteidiger, die beispielsweise bei Vorwürfen gegen das Betäubungsmittelgesetz tätig sind, eine reale Gefahr, selbst ins Visier der Strafverfolger zu geraten.

Fast jedem Anwalt ist in seinem Berufsleben schon einmal ein potenzieller Interessenkonflikt über den Weg gelaufen. Auch unter Rechtsanwälten scheint es sehr unterschiedliche Verhaltensmuster zu geben, auf derartige Gefahren zu reagieren. Während manche Juristen nach dem Motto handeln „Wenn es auch nur irgendwie gefährlich werden könnte, lasse ich lieber die Finger davon“ gibt es andere Kollegen, die darauf vertrauen, dass „schon nichts passieren wird“.

In der Praxis ist es tatsächlich oft „russisches Roulette“, sich auf bestimmte kritische Situationen einzulassen. In den meisten Fällen passiert tatsächlich nichts. Wenn es der Zufall aber will und ein Strafverfahren gegen einen Rechtsanwalt wegen Parteiverrats eingeleitet wird, hat dies oft drastische Konsequenzen für den Betroffenen.

B. Berufsrecht der Strafverteidigung

I. Folgen einer Verurteilung wegen Parteiverrats

Kommt es zu einer rechtskräftigen Verurteilung eines Anwalts wegen Parteiverrats, so ist ein anschließendes berufsrechtliches Verfahren so sicher wie das Amen in der Kirche. Eine Verurteilung wegen Parteiverrats kann – neben der eigentlichen Strafe – die schärfste aller berufsrechtlichen Sanktionen nach sich ziehen, nämlich einen Ausschluss aus dem Beruf (vgl. § 114 Abs. 1 Nr. 5 BRAO). Darüber hinaus kann ein Verstoß gegen § 356 StGB (bzw. der entsprechenden berufsrechtlichen Vorschriften) zur Nichtigkeit des Anwaltsvertrages führen. Dies hat unter Umständen zur Folge, dass Honoraransprüche entfallen. Auch an eine Vermögensabschöpfung darüber hinausgehender Werte ist zu denken.

In der Praxis kommt es zwar nur relativ selten – dann auch meist in eindeutigen Fällen – zu rechtskräftigen Verurteilungen wegen Parteiverrats. In problematischen Grenzfällen lassen sich viele Betroffene auf einen „faulen Deal“ ein und akzeptieren eine Einstellung des Strafverfahrens gegen Geldauflage gemäß § 153a StPO. Aus Sicht des Rechtsstaates ist dies unerfreulich, da wichtige Rechtsfragen ungeklärt bleiben und die bestehenden Missbrauchsmöglichkeiten perpetuiert werden.

Die betroffenen Rechtsanwälte sollten sich im Übrigen genau überlegen, ob der „Spatz in der Hand“ (= Einstellung gegen Geldauflage) gegenüber der „Taube auf dem Dach“ – nämlich einem klaren Freispruch – wirklich die bessere Wahl ist. Insbesondere ist im Auge zu behalten, dass eine Einstellung eines Ermittlungsverfahren gemäß der Opportunitätsvorschriften der §§ 153 ff. StPO gleichwohl berufsrechtliche Folgen nach sich ziehen kann. Auch eine isolierte Vermögensabschöpfung ist nicht ausgeschlossen.

II. Verhältnis zu anderen Normen des Strafrechts

a) § 146 StPO – Verbot der Mehrfachverteidigung

1. Allgemeine Voraussetzungen

Der Tatbestand des Parteiverrats bzw. die entsprechenden berufsrechtliche Vorschriften sind historisch gesehen älter als das in § 146 StPO normierte Verbot der Mehrfachverteidigung. Dieses wurde erst in den 70er-Jahren im Zuge der sogenannten Stammheim-Prozesse eingeführt. Bis dahin war auch eine Mehrfachverteidigung mehrerer Beschuldigter eines Strafverfahrens erlaubt, solange nur materiell kein Interessengegensatz vorlag.

Der Anwendungsbereich des § 146 StPO überschneidet sich zum Teil mit demjenigen des § 356 StGB. In vielen Teilbereichen erfasst der Parteiverrat jedenfalls auch Fallkonstellationen, die nicht unter das Verbot der Mehrfachverteidigung fallen. Dies führt immer wieder zu fatalen Irrtümern darüber, welches Mandant angenommen werden darf und welches nicht.

146 StPO ist schon deshalb im Anwendungsbereich deutlich enger als die Normen, die einen Interessenkonflikt regeln, da es hier nur um die Verteidigung in Strafverfahren geht. In § 146 S. 1 StPO wird an „dieselbe Tat“ angeknüpft. Dem liegt der sogenannte prozessuale Tatbestand im Sinne von § 264 StPO zugrunde. Darunter versteht man einen einheitlichen geschichtlichen Vorgang, der sich von anderen ähnlich oder gleichartigen Geschehen unterscheidet.

Liegt ein Fall sogenannter Tatidentität vor, wird ein Interessenwiderstreit unwiderleglich vermutet. Es ist daher nicht möglich, im konkreten Fall eine Ausnahme zuzulassen – selbst dann wenn Einigkeit besteht, dass inhaltlich keine Interessenkollision vorliegt.

Noch formaler ist das Verbot der Mehrfachverteidigung gemäß § 146 S. 2 StPO, d.h. bei Verfahrensidentität. Hier kommt es ausschließlich darauf an, ob ein Staatsanwalt ein Verfahren gegen mehrere Beschuldigte verbindet. Werden die Verfahren wieder getrennt, besteht das Verbot nicht mehr. Durch die Formalisierung des § 146 S. 2 StPO kann es bei Verfahrensidentität zu Fällen kommen bei denen eine Mehrfachverteidigung verboten ist, obwohl weder „dieselbe Tat“ noch ein Interessengegensatz vorliegt.

146 StPO verbietet nicht, dass sich mehrere Verteidiger untereinander besprechen und eine gemeinsame Verteidigungslinie abstimmen. Eine derartige Sockelverteidigung ist berufsrechtlich und strafprozessual dem Grunde nach zulässig – und in vielen Fällen auch sinnvoll. Allerdings ist auch in derartigen Konstellationen darauf zu achten, dass jeder Anwalt im Rahmen der gemeinsam abgestimmten Verteidigung tatsächlich nur die Interessen seines eigenen Mandanten vertritt. Ordnet sich ein Verteidiger im Rahmen einer Sockelverteidigung dem Willen eines Kollegen unter, beispielsweise weil er sich von diesem die Vermittlung zukünftiger lukrativer Mandate verspricht, begibt er sich in den Eingangsbereich des Parteiverrats.

2. Sukzessive Mehrfachverteidigung

Eines der ersten Dinge, die jeder Berufsanfänger, der Strafverteidiger werden will, lernt ist, dass die sogenannte sukzessive Mehrfachverteidigung durch § 146 StPO nicht verboten ist. Das bedeutet, dass man grundsätzlich einen Beschuldigten vertreten darf, wenn das Mandat mit einem anderen Beschuldigten bereits abgeschlossen ist.

Hier lauert eine böse Falle. Denn auch eine sukzessive Mehrfachverteidigung ist ein Parteiverrat, wenn die Interessen der jeweiligen Mandanten kollidieren. § 356 StGB verlangt keine „Gleichzeitigkeit“ des Interessengegensatzes. Theoretisch kann sich ein Interessengegensatz auch noch Jahre später offenbaren – mit der Folge, dass zumindest der objektive Tatbestand des § 356 StGB erfüllt ist.

Dieses Problem stellt sich insbesondere in Fallkonstellationen, bei denen das vorherige Verfahren nicht rechtskräftig wurde bzw. ohne Strafklageverbrauch eingestellt worden ist. Erfährt ein Verteidiger beispielsweise im Rahmen des „zweiten Mandats“, dass ein anderer Beschuldigter, dessen Strafverfahren gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt wurde, in Wirklichkeit der Täter war, so hat der Anwalt ein Problem.

Ein Interessenkonflikt bei zeitlich versetzten Mandaten kann auch ganz und gar ungewollt auftreten. Manchmal erinnert sich ein Rechtsanwalt nach vielen Jahren nicht mehr daran, dass er schon einmal mit einem Mandanten Kontakt hatte, der ihm nun plötzlich in einer Hauptverhandlung als Belastungszeuge gegenübertritt. Theoretisch ist ein Anwalt, der einmal ein Mandat angenommen hat, „auf ewig“ an die daraus resultierende Interessenrichtung gebunden. Kommt es nach Jahren zu einem Konflikt, dürfte aber jedenfalls ein Vorsatz des entsprechenden Berufskollegen zu verneinen sein.

3. Zeugenbeistand

Das Verbot der Mehrfachverteidigung des § 146 StGB gilt grundsätzlich nicht für Zeugenbeistände und Nebenkläger. Auch hier besteht jedoch die Möglichkeit, dass es zu einem Interessengegensatz kommt. Dies wäre unzweifelhaft dann der Fall, wenn sich zwei Zeugen, die im selben Ermittlungsverfahren vernommen werden, gegenseitig der Beihilfe bezichtigen.

Nicht ganz unproblematisch kann auch schon ein Sonderwissen bzw. ein „passives Wissen“ sein. Wenn beispielsweise einer der Zeugen gegenüber dem Anwalt „gesteht“, dass er gemeinsam mit einem anderen Zeugen an einer Straftat des Hauptbeschuldigten beteiligt war, weiß der Anwalt mehr als die Ermittlungsbehörden. Vertritt er nun auch den anderen Zeugen, und leugnet dieser gegenüber dem Anwalt eine Beteiligung, führt dies zumindest objektiv zu einer Kollision der Sachverhalte.

Eine solche Konstellation muss jedoch nicht zwangsläufig zu einer Interessenkollision führen. Solange alle Beteiligten sich darüber einig sind, dass gegenüber den Ermittlungsbehörden jedenfalls aktiv keine Angaben gemacht werden sollen, ist es sinnvoll, sich gemeinsam auf ein Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO zu berufen und zu schweigen. Der Rechtsanwalt hat nichts Falsches gemacht. Er hat jeden der von ihm Vertretenen zutreffend über die Möglichkeiten des § 55 StPO belehrt und gleichzeitig gegenüber den Ermittlungsbehörden den Wunsch der jeweiligen Mandanten verwirklicht.

Eine strafbare Interessenkollision könnte man nach alledem nur dann annehmen, wenn hierzu schon ein potenzieller Interessenkonflikt ausreichen würde. Dies ist jedoch zu verneinen (vgl. dazu unten).

b) Berufsrechtliche Vorschriften: § 43a BRAO, § 3 BORA

Die berufsrechtlichen Vorschriften des § 43a Abs. 4 BRAO (Bundesrechtsanwaltsordnung) bzw. § 3 BORA (Berufsordnung für Rechtsanwälte) setzen ebenfalls einen Interessenkonflikt voraus. Ihr Anwendungsbereich entspricht insoweit im Wesentlichen dem des § 356 StGB.

Anders als beim Straftatbestand des Parteiverrats ist für das Berufsrecht jedoch kein Vorsatz erforderlich. Auch fahrlässige Verstöße können berufsrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Darüber hinaus gilt § 43a Abs. 4 BRAO auch für Sozien bzw. Mitgesellschafter einer Anwaltskanzlei. Der interpersonelle Anwendungsbereich wird durch § 3 BORA auch noch auf Personen erweitert, die mit dem Rechtsanwalt zusammenarbeiten, d.h. Angestellte, freie Mitarbeiter oder Kollegen in Bürogemeinschaft. § 3 Abs. 2 BORA ermöglicht es jedoch ausdrücklich, eine Einverständniserklärung der Mandanten einzuholen. Die Gefahren, die von den berufsrechtlichen Vorschriften ausgehen, können durch entsprechende Vorsorgemaßnahmen daher entschärft werden.

Die Rechtsfolge eines Verstoßes gegen das Verbot der Vertretung widerstreitender Interessen ist in § 3 Abs. 4 BORA geregelt. Wer erkennt, dass er versehentlich in einen Interessenkonflikt (auch mit einem Berufskollegen) geraten ist, hat unverzüglich seinen Mandanten davon zu unterrichten und alle Mandate in derselben Rechtssache zu beenden.

c) Syndikusrechtsanwälte

Eine Sondervorschrift zur Vermeidung von Interessenkollisionen enthält § 46c BRAO für Syndikusrechtsanwälte. Diese dürfen, wenn sich ein Straf- oder Bußgeldverfahren gegen den Arbeitgeber oder dessen Mitarbeiter richtet, nicht als deren Verteidiger tätig werden.

C. Voraussetzungen des Parteiverrats

I. Anwalt oder anderer Rechtsbeistand

Unter das Sonderdelikt des § 356 StGB fallen zunächst einmal alle Rechtsanwälte, d.h. insbesondere auch Strafverteidiger. Auch Patentanwälte oder Hochschullehrer, die gemäß § 142 Abs. 2 StPO als Verteidiger bestellt sind, können einen Parteiverrat begehen Dasselbe gilt für Steuerberater oder andere Steuerberufe, soweit sie in Steuerstrafsachen als Verteidiger tätig sind (§ 369 AO). Nicht erfasst sind Rechtsanwälte, wenn sie in einer ganz anderen Funktion tätig sind, d.h. beispielsweise als Insolvenzverwalter, Testamentsvollstrecker, Makler oder Geschäftsführer einer GmbH. Hier wird man in jedem Einzelfall allerdings immer genau hinschauen müssen, welche konkrete Tätigkeit tatsächlich im Vordergrund steht.

Nicht ganz eindeutig sind die Kommentierungen in Bezug auf Notare. Offensichtlich wurde noch nie ein Notar wegen Parteiverrats verurteilt. Notare lassen sich zumindest dem Wortlaut nach unproblematisch unter den Begriff „anderer Rechtsbeistand“ subsumieren. Allerdings ist die berufliche Stellung eines Notars nicht unbedingt mit derjenigen eines Rechtsanwalts vergleichbar. Notare unterliegen einer sogenannten Neutralitätspflicht. Gemäß § 14 Abs. 1 S. 2 Bundesnotarordnung ist ein Notar nicht Vertreter einer Partei, sondern unabhängiger und unparteiischer Betreuer der Beteiligten.

Dennoch – oder gerade deshalb – spricht vieles dafür, den Notar als „sonstigen Rechtbeistand“ i.S.v. § 356 StGB anzusehen. Auch dieser macht sich daher strafbar, wenn er eine von mehreren Parteien zu Lasten einer anderen hintergeht bzw. aus unsachlichen Motiven heraus bevorzugt. In der Praxis scheint die Hemmschwelle, Straf- bzw. berufsrechtliche Verfahren gegen Notare einzuleiten, deutlich höher zu liegen, als beispielsweise gegen Steuerberater.

II. Tathandlung des Parteiverrats

1. Anvertraute Rechtssache

Die Schwelle, ab wann eine Rechtssache einem Anwalt „anvertraut“ ist, liegt niedrig. Dies ist jedenfalls bei rein privaten Gesprächen noch nicht der Fall. Dasselbe gilt für abstrakte Rechtsauskünfte, die beispielsweise im Rahmen von Schulungen oder Vorträgen gegeben werden (z.B. „Die Verjährung im Strafrecht beträgt 5 Jahre“, „Ab 90 Tagessätzen ist man vorbestraft“).

Doch schon, wenn beispielsweise ein Rechtsanwalt zu einer Durchsuchung in einem Unternehmen gerufen wird, und am Anfang nicht ganz klar ist, wen er eigentlich vertritt (das Unternehmen, die Geschäftsführer als potenzielle Beschuldigte, die Mitarbeiter als Zeugen usw.), kann die Grenze fließend sein.

In der Rechtsprechung wird mit der Formel gearbeitet, dass eine Rechtssache dann anvertraut ist, wenn ein Sachverhalt mit dem Angebot der Mandatsübertragung unterbreitet wird und der Rechtsanwalt dieses Angebot nicht unverzüglich zurückweist.

Diese Formel ist bei genauerer Betrachtung äußerst problematisch. Besucht beispielsweise ein Rechtsanwalt einen potenziellen Mandanten in der JVA und schließt mit diesem eine Honorarvereinbarung, so wäre eine Rechtssache selbst dann bereits „anvertraut“, wenn der Mandant das vereinbarte Honorar niemals bezahlt und es in Folge dessen zu einer baldigen Niederlegung des Mandats kommt. Vorzugswürdig ist es daher, mit Teilen der Literatur darauf abzustellen, dass eine Sache erst dann „anvertraut“ ist, wenn der potenzielle Mandant berechtigterweise davon ausgehen kann, dass der Rechtsanwalt ein Mandant tatsächlich übernimmt. Dies ist in Fällen, bei denen ein Mandant sich weigert, das von dem Anwalt geforderte Honorar zu bezahlen, jedenfalls nicht der Fall.

2. „Ihm“ anvertraut

Die konfligierenden Mandate müssen „ihm“ – also dem Rechtsanwalt in Person –  anvertraut sein. Strafrecht und Berufsrecht laufen in Sozietätssachverhalten auseinander.

Zwar liegt ein Verstoß gegen § 3 Abs. 2 Satz 1 BORA vor, wenn ein Sozietätskollege in derselben Rechtssache die Gegenseite im widerstreitenden Interesse beraten hat.

Der Parteiverrat setzt allerdings voraus, dass der Täter persönlich für beide Seiten tätig wird – strafrechtlich sanktioniert wird der berufsrechtliche Verstoß gegen § 3 Abs. 2 Satz 1 BORA daher nicht.

3. Pflichtwidriges Dienen gegenüber beiden Parteien

a) Partei

Parteien sind die an einer Rechtssache rechtlich beteiligten natürlichen und juristischen Personen. Ausreichend für die Parteistellung ist, dass die Person in der jeweiligen Sache ein rechtliches Anliegen verfolgt.

Im Strafverfahren gehören der Beschuldigte bzw. potenzielle Mitbeschuldigte genauso zum Kreis der geschützten „Parteien“ wie die Opfer einer Straftat oder Zeugen.

Dies hat die Rechtsprechung nicht immer so gesehen. Noch vor einigen Jahrzehnten wurde die Anwendung des § 356 StGB im Strafrecht in Bezug auf Beschuldigte einer Straftat mit dem Argument abgelehnt, diese haben ein rein faktisches Interesse am Ausgang des Verfahrens. Interessanterweise wird ein ähnliches Argument heute noch in der Diskussion bemüht, ob auch die Staatsanwaltschaft Partei im Sinne des § 356 sein kann. Richtigerweise hat auch diese ein nicht nur „faktisches“ Interesse, sondern auch ein rechtliches Interesse am Ausgang eines Verfahrens.

Der Literaturansicht, wonach auch Staatsanwälte Partei im Sinne des § 356 StGB sein können, ist daher zu folgen. Dies hat beispielsweise bei Absprachen über den Ausgang eines Strafverfahrens eine ganz praktische Konsequenz. Ein Verteidiger darf im Rahmen derartiger Gespräche weder im „stillen Kämmerlein“ Mandatsgeheimnisse ausplaudern, noch durch ein „Augenzwinkern“ signalisieren, dass der Mandant schuldig ist. Erst recht dürfen solche Verletzungen des Mandatsinteresses, solange kein ausdrücklicher Auftrag des Mandanten vorliegt, nicht mit dem Motiv vorgenommen werden, es dem Staatsanwalt oder dem Gericht „recht zu machen“ – beispielsweise weil man sich dadurch Vorteile in anderen Verfahren erhofft.

b) „Dienen“

Der Begriff des „Dienens“ erfasst jede berufliche Tätigkeit des Täters, durch die das Interesse der betroffenen Partei gefördert werden soll. Erforderlich ist die tatsächliche Erbringung einer anwaltlichen Dienstleistung – entweder durch Rat oder durch Beistand. Der Begriff wird sehr weit ausgelegt. Auch durch pflichtwidriges Unterlassen kann gedient werden. Dies wäre beispielsweise dann der Fall, wenn ein Anwalt auf Akteneinsichtsrecht oder prozessuale Widersprüche verzichtet, weil er sich die „guten Beziehungen“ zur Gegenseite nicht verderben will.

Die bloße Mitteilung der Bereitschaft eines Rechtsanwalts, ein Mandant anzunehmen, stellt noch kein „Dienen“ dar. Teilweise wird jedoch behauptet, ein solches liege jedenfalls dann vor, wenn ein Anwalt sich bei Gericht angezeigt hat und / oder eine entsprechende Vollmacht zu den Akten gegeben hat.

c) Dieselbe Rechtssache

Dieselbe Rechtssache im Sinne von § 356 StGB umfasst alle Angelegenheiten „bei denen mehrere Beteiligte in entgegengesetztem Interesse einander gegenüberstehen können“. Es kommt also auf den sachlich-rechtlichen Inhalt der anvertrauen Interessen an. Der Anwendungsbereich des Parteiverrats geht über denjenigen des Verbots der Mehrfachverteidigung bei Tatidentität hinaus. Insbesondere ist der Begriff „dieselbe Rechtssache“ nicht identisch mit demjenigen der „prozessualen Tat“ im Sinne der §§ 146 S. 1, 264 StPO.

Bei komplexen bzw. vielschichtigen Lebenssachverhalten kommt es im Ergebnis entscheidend darauf an, ob diese nur einer einheitlichen juristischen Betrachtung zugeführt werden können.

Vertritt beispielsweise ein Rechtsanwalt ein Unternehmen generell bei der Korruptionsprävention und in einem anderen Verfahren einen (ehemaligen) Arbeitgeber gegen das Unternehmen in einem Kündigungsschutzprozess, so dürfte dies jedenfalls nicht dieselbe Rechtssache im Sinne des § 356 StGB sein. Ein Interessenkonflikt liegt somit zumindest rechtlich nicht vor. Ob ein solches Verhalten eines Rechtsanwalts taktisch bzw. ökonomisch klug ist, steht auf einem anderen Blatt.

d) „Pflichtwidriges Dienen“

1.      Objektives oder subjektives Interesse als Ausgangspunkt?

Der zentrale auslegungsbedürftige Begriff des Parteiverrats ist die „Pflichtwidrigkeit“ des Dienens. Das Strafgesetz selbst gibt keine Anhaltspunkte dafür, wie genau dieser doch recht unbestimmte Rechtsbegriff zu konkretisieren ist.

Umstritten ist bereits, ob es bei der Beurteilung, ob das Verhalten eines Anwalts „pflichtwidrig“ ist, ob es hierbei auf die konkreten, subjektiven Interessen der Mandanten ankommt oder ob im Ausgangspunkt von einem objektiven, „wohlverstandenen“ Interesse der Mandanten auszugehen ist.

Die herrschende Meinung und auch die Rechtsprechung stellen auf das tatsächliche – subjektive – Interesse des jeweiligen Mandanten ab. Mit anderen Worten: Auch wenn ein Mandant unvernünftig ist, hat der Anwalt dessen Auftrag zu erfüllen und darf nicht gegen den Willen des Mandanten handeln.

Jedem Strafverteidiger ist diese Problematik bekannt. Manchmal bedarf es schon einer sehr professionell distanzierten Haltung, um der Gefahr entgegen zu wirken, sich zum „Sklaven des eigenen Mandanten“ zu machen. Eine frühzeitige Klärung der Mandanteninteressen und der Bereitschaft des Anwalts, diese zu vertreten, ist wichtig.

Ein Beispiel für einen Rechtsanwalt, der glaubte, die wahren Interessen seiner Mandanten besser einschätzen zu können als diese selbst, lieferte in den letzten Jahren der sogenannte „Oldenburger Bahnkonflikt“. In einem Verwaltungsrechtsstreit mit der Deutschen Bahn vertrat ein renommierter Spezialist für Verwaltungsrecht die Interessen mehrerer Bürger gleichzeitig gegenüber dem Bahnunternehmen. In einem Gerichtstermin machte die Deutsche Bahn daraufhin einen Vorschlag für eine gütliche Einigung, der den Klägern aus Sicht des Rechtsanwalts sehr entgegen kam. Er war persönlich davon überzeugt, dass „mehr nicht zu holen“ sei und stimmte daher Kraft seiner anwaltlichen Vollmacht der vorgeschlagenen Einigung zu.

Eben dies hatten die Kläger dem Rechtsanwalt jedoch ausdrücklich untersagt. Sie hatten schon im Vorfeld klargestellt, dass sie keine Kompromisse eingehen wollen und im Notfall den Streit auch bis zur letzten Instanz durchkämpfen wollen. Der Anwalt hatte sich folglich mit der Zustimmung zu der gerichtlichen Einigung eindeutig gegen den tatsächlich erklärten subjektiven Willen seiner Mandanten gestellt.

Daraufhin kam es zu der Einleitung eines Strafverfahrens gegen den Rechtsanwalt. Dieses wurde zunächst durch die Staatsanwaltschaft eingestellt, dann aber im anschließenden Klageerzwingungsverfahren durch das Oberlandesgericht Hamm wieder aufgenommen (vgl. Beschluss des OLG Hamm vom 09.10.2014, Az. 4 Ws 227/14). In einem langwierigen Strafverfahren verurteilt das Landgericht Münster den Rechtsanwalt wegen Parteiverrats zu einer Bewährungsstrafe von einem Jahr und vier Monaten – was das sichere berufliche Ende des angeklagten Anwalts bedeutet.

Die vom Anwalt eingelegte Revision war teilweise erfolgreich. Der BGH bestätigte jedoch in seiner Entscheidung vom 21.11.2018 ( 4 StR 15/18) die grundsätzliche Strafbarkeit wegen Parteiverrats in der vorliegenden Konstellation. In der Entscheidung wird zutreffend – betont, dass es bei der der Auslegung des § 356 StGB in erster Linie auf den tatsächlichen Mandanten-Willen ankommt – und nicht darauf, was objektiv gut und richtig für diesen wäre.

2.      Prüfung der Pflichtwidrigkeit

Richtigerweise erfolgt die Prüfung der Pflichtwidrigkeit in folgenden Schritten:

  1. Ausgangspunkt ist der „sachgerecht informierte, urteilsfähige und frei entscheidende“ Mandant. Die notwendige Bedingung des anwaltlichen Auftrags ist, dass der Mandant über alle anstehenden Schritte informiert ist. Bei drohenden Konflikten ist der Mandant frühzeitig zu informieren. Außerdem hat ein Rechtsanwalt seinen Mandanten darauf hin zu weisen, wenn er glaubt, dass dieser unvernünftig handelt.
  2. Unter der Bedingung, dass der Mandant über alle Umstände und auch die Einschätzungen des Rechtsanwalts informiert ist, kommt es nach richtiger Auffassung im Grundsatz auf dessen subjektiven Willen an, den der Rechtsanwalt zu verwirklichen hat.
  3. Erst auf dieser Grundlage ist dann zu ermitteln, ob beispielsweise bei der Vertretung mehrerer Mandanten gleichgerichtete Interessen vorliegen oder ob die jeweiligen subjektiven Interessen unvereinbar sind. Nur im letzteren Fall liegt eine Kollision vor, die zu einem Interessenwiderspruch, und damit zu einer „Pflichtwidrigkeit des Dienens“, führt.

Wie der Fall des „Oldenburger Bahnkonflikts“ zeigt, kann ein Parteiverrat auch dann vorliegen, wenn entweder innerhalb einer von dem Anwalt vertretenen Gruppen unterschiedliche Interessen bestehen, oder sich ein Rechtsanwalt ausdrücklich gegen den explizit erklärten Willen seiner Mandanten stellt. Ein Parteiverrat ist auch dann denkbar, wenn ein Strafverteidiger in einem gerichtlichen Plädoyer auf eine Bewährungsstrafe plädiert, obwohl der Mandant ihm ausdrücklich den Auftrag erteilt hat, einen Freispruch zu fordern. Dies gilt – einen sachgerecht informierten und urteilsfähigen Mandanten vorausgesetzt – selbst dann, wenn die Forderung nach Freispruch noch so unvernünftig ist und mit Sicherheit vor Gericht ins Verderben führt.

3.      Rechtfertigende Einwilligung?

Obwohl das subjektive Interesse des jeweiligen Mandanten nach überwiegender – und zutreffender – Auffassung der Ausgangspunkt für die Prüfung der „Pflichtwidrigkeit“ ist, besteht weitestgehend Einigkeit, dass eine rechtfertigende Einwilligung als Rechtfertigungsgrund ein pflichtwidriges Handeln jedenfalls nicht beseitigt.

Hintergrund sind die von § 356 StGB geschützten Rechtsgüter. Nach ganz herrschender Meinung verfolgt die Strafbarkeit des Parteiverrats einen doppelten Schutzzweck:

  1. Zum einen soll der Mandant vor „Verrat“ oder einem „Überlaufen zur anderen Seite“ geschützt werden. Hier geht es also um das „Integritätsinteresse des Mandanten“. Dieses Schutzgut stünde für sich alleine genommen zur Disposition des jeweiligen Mandanten, wäre also einwilligungsfähig.
  2. Nach ganz überwiegender Auffassung ist der Parteiverrat aber auch deshalb strafbar, um das „Ansehen der Anwaltschaft insgesamt“ zu wahren. Es geht folglich um ein überindividuelles Rechtsgut, das nicht zur Disposition des Einzelnen steht. Der Mandant kann also durch seinen subjektiven Auftrag die Richtung bestimmen, in die der Anwalt arbeitet. Innerhalb dieser Grenze ist der Rechtsanwalt aber als unabhängiges Organ der Rechtspflege (vgl. § 1 BRAO) mit verantwortlich, dass diese integer und funktionsfähig bleibt.

Aus diesem Grund dürfte ein Anwalt beispielsweise nicht „schizophren verhandeln“, d.h. gleichzeitig zwei Positionen vertreten, die logisch unvereinbar sind. Dies wäre entweder dann der Fall, wenn ein Anwalt im Auftrag einer Ehefrau eine Strafanzeige gegen den prügelnden Mann stellt, diesen dann in einem anschließenden Strafverfahren wegen Körperverletzung verteidigt und auf Freispruch plädiert. Genauso selbst widersprüchlich wäre es, wenn ein Strafverteidiger zwei Mitfahrer eines PKW´s vertritt, von denen beide gegenüber der Polizei behaupten, selbst der Fahrer gewesen zu sein.

4.      Potenzieller oder tatsächlicher Interessenkonflikt?

a) Streitfrage

Stehen nach dem oben dargestellten Prüfungsprogramm die jeweiligen subjektiven Interessen der Mandanten fest, so ist in Fällen der gleichzeitig Vertretung mehrerer Beschuldigter im Strafverfahren in einem letzten Schritt zu fragen, ob diese Interessen miteinander im Einklang stehen. Auf dieser Stufte ist streitig, ob ein „pflichtwidriges Dienen“ im Sinne von § 356 StGB bereits dann vorliegt, wenn es möglich erscheint, dass die Interessen auseinander laufen, oder ob eine solche Kollision aktuell und konkret vorliegen muss.

Ein Fall, bei dem diese Streitfrage eine Rolle spielte, wurde im Mai 2018 vom Amtsgericht Nürnberg entschieden. Dieser spielte sich im Betäubungsmittelstrafrecht ab. Zwei Beschuldigte wurden durch denselben „Drogenkönig“, der von der Kronzeugenregelung des § 31 BtMG Gebrauch machte, als Kunden seines Drogenimperiums benannt. Die Beschuldigten wurden von demselben Rechtsanwalt als Strafverteidiger vertreten.

Die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth leitete ein Verfahren gegen den Nürnberger Verteidiger ein. Nachdem dieser eine Einstellung des Strafverfahrens gegen Geldauflage ablehnte, kam es zur Verurteilung des Strafverteidigers durch das Amtsgericht Nürnberg wegen Parteiverrats. Der Fall ist noch nicht rechtskräftig (Stand Oktober 2018).

(4.      Potenzieller oder tatsächlicher Interessenkonflikt?)

b) Auffassung der Nürnberger Staatsanwaltschaft

Folgt man der Auffassung, dass es auf einen tatsächlichen Interessenkonflikt ankommt, hat sich der Nürnberger Kollege nicht strafbar gemacht. Beide Mandanten wussten voneinander. Sie wussten auch davon, dass sie beide durch denselben Kronzeugen belastet wurden. In der konkreten Konstellation haben sie sich vielleicht sogar Vorteile davon versprochen, von ein und demselben Rechtsanwalt verteidigt zu werden.

Tatsächlich kann eine solche Verteidigung besonders effizient sein, wenn beide Beschuldigte zu Unrecht belastet wurden. Aber auch wenn sie schuldig sind und gestehen wollen, kann es durchaus Sinn machen, die Interessen aufeinander abzustimmen, wenn man sich beispielsweise aus Freundschaft nicht gegenseitig belasten will.

Die Nürnberger Staatsanwaltschaft, und auch das Amtsgericht Nürnberg in erster Instanz, sahen die Sache anders. Sie sind der Auffassung, dass schon ein potenzieller Interessenkonflikt dazu führt, dass ein Anwalt die Finger von einem Mandant zu lassen hat. Dahinter steckt in Wirklichkeit folgender Gedanke: Entschließt sich einer der beiden Beschuldigten zu einem Geständnis, liegt es im Interesse der Staatsanwaltschaft, dass dieser auch den anderen belastet.

Aus Sicht der Staatsanwaltschaft ist der Verteidiger nun gehindert, seinen Mandanten zu einer Aufklärungshilfe zu Lasten des andere zu raten. Die Staatsanwaltschaft bejaht daher selbst dann einen Parteiverrat, wenn der jeweilige Mandant gar nicht daran denkt, seinen Mitbeschuldigten zu belasten – selbst wenn, wenn dies gar nicht zur Debatte steht, da beide unschuldig sind!

(4.      Potenzieller oder tatsächlicher Interessenkonflikt?)

c) Systematische Einwände

Die Rechtsauffassung der Nürnberger Justiz (in den unteren Instanzen) führt nicht zur bedenklichen Gefahr, dass unbequeme Verteidiger „ausgeschaltet“ werden können. Sie ist auch weder durchdacht noch überzeugend.

Dies fängt schon damit an, dass der Grad der Wahrscheinlichkeit, ab wann man von eine „potenziellen Interessenkonflikt“ sprechen kann, von den Vertretern dieser Lehrmeinung nicht genannt wird. Geht man in dem genannten Beispiel davon aus, dass die beiden Mitbeschuldigten vollkommen unschuldig sind, bestand niemals auch nur ansatzweise die Gefahr, dass deren Interessen gegenläufig sind. Dies weiß ein Staatsanwalt freilich niemals sicher (genauso wenig wie ein Rechtsanwalt).

Auch systematische Argumente sprechen gegen die Auffassung des Amtsgerichts Nürnberg. In dem Original-Urteil wurde nicht einmal ansatzweise versucht sich mit den dafür und dagegen sprechenden rechtlichen Argumenten auseinanderzusetzen.

Bei § 356 StGB handelt es sich um ein sogenanntes abstraktes Gefährdungsdelikt. Das bedeutet, dass ohnehin die Strafbarkeit sehr weit „nach vorne“ verlagert wird. Umso wichtiger ist eine scharfe Konturierung des Straftatbestandes. Dies ist schon vor dem Hintergrund der anwaltlichen Berufsfreiheit erforderlich, die durch Art. 12 GG (Grundgesetz) geschützt wird. Im Übrigen entspricht es der ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung, dass bei einem zwar drohenden, aber nicht wirklich bestehenden, Interessenkonflikt ein Richter einen Anwalt immer noch als Pflichtverteidiger bestellen darf.

Denkt man an die Konsequenzen der Rechtsauffassung der Nürnberger Justiz zu Ende, müsste ein Richter, der so etwas tut, konsequenter Weise wegen Beihilfe zum Parteiverrat verfolgt werden. Diese Konsequenzen zu ziehen ist freilich niemand bereit. Es werden an die Strafbarkeit von  Richtern offenbar nicht dieselben Maßstäbe angelegt, die bezüglich der Strafbarkeit von Strafverteidigern oberflächlich behauptet werden.

(4.      Potenzieller oder tatsächlicher Interessenkonflikt?)

d) Ansehen der Rechtsanwaltschaft

Auch das Ansehen der Rechtsanwaltschaft ist nach der hier vertretenen Auffassung nicht gefährdet. Denn es entspricht gerade dem Beruf des Rechtsanwalts, an den Auftrag des Mandanten gebunden zu sein.

Eine „Vernünftigkeitskontrolle“ findet weder durch den Rechtsanwalt noch durch die Justiz statt. In einem freiheitlichen demokratischen Rechtsstaat ist jeder Mensch frei, auch unvernünftig zu sein. Abgesehen davon gibt es bei genauerer Betrachtung durchaus vernünftige Gründe mehrerer Beschuldigter, sich durch einen Rechtsanwalt vertreten zu lassen oder zumindest ihre Verteidigung optimal miteinander abzustimmen.

Im Übrigen werden die Mandanten durch die §§ 43a Abs. 4 BRAO sowie 3 Abs. 4 BORA ausreichend geschützt. Danach hat ein Rechtsanwalt sämtliche Mandate unverzüglich niederzulegen, wenn ein Interessenkonflikt konkret wird. Ein guter Strafverteidiger bei drohenden Konflikten ohnehin auf die Übernahme des zweiten Mandates verzichten und stattdessen einen Kollegen hinzuziehen, um eine optimale Verteidigungsstrategie zu entwickeln.

III. Subjektive Tatseite: Vorsatz

Strafbar ist ein Verstoß gegen das Verbot der Vertretung widerstreitenden Interessen nur dann, wenn der jeweilige Anwalt auch vorsätzlich handelt. Vorsatz dürfte zu verneinen sein, wenn beispielsweise ein Rechtsanwalt nach vielen Jahren sich nicht mehr daran erinnern kann, dass er einer Partei schon einmal begegnet ist.

Irrtümer über die Auslegung des § 356 StGB stellen demgegenüber in aller Regel sogenannte Verbotsirrtümer im Sinne von § 17 StGB dar. Diese führen in aller Regel nicht zu einer Straflosigkeit.

D. Datenschutz beim Strafverteidiger

Es gibt keine gesetzlichen Regelungen, wie lange der Schutz vor Interessenkonflikten bei Mandaten fortbesteht, die bereits längst beendet sind. Diese Rechtslage steht in einem Widerspruch zu den Anforderungen des Datenschutzes. Grundsätzlich sind gemäß § 50 BRAO Handakten eines Rechtsanwalts für die Dauer von sechs Jahren aufzubewahren. Gemäß Art. 17 der Datenschutzgrundverordnung besteht nach Ablauf dieser gesetzlichen Aufbewahrungsfristen eine Löschungspflicht. Dahinter steht das Recht der Mandanten auf „Vergessenheit“.

Vor diesem Hintergrund macht es Sinn, schon den objektiven Tatbestand des § 356 StGB einzugrenzen wenn ein früheres Mandat seit mehr als sechs Jahren beendet ist. Dies gebietet nicht nur die Einheit der Rechtsordnung. Betroffene Anwälte sind vor willkürlicher Strafverfolgung zu schützen, bevor es zu einem Streit kommt, ob man sich nach so langer Zeit noch an einen abgeschlossenen Fall erinnern kann und muss.

E. Ausblick

Es ist zu hoffen, dass manche Streitfragen demnächst geklärt werden – eventuell durch eine Revision beim Oberlandesgericht Nürnberg. Da Strafverfahren, die in erster Instanz beim Amtsgericht geführt werden, normalerweise nicht zum Bundesgerichtshof gelangen, könnte ein Oberlandesgericht auch eine sogenannte Divergenzvorlage machen.

Dies bedeutet, dass eine Rechtsfrage, die normalerweise von einem Oberlandesgericht regional zu entscheiden wäre, einheitlich und bundesweit durch den Bundesgerichtshof in Karlsruhe entschieden wird. Voraussetzung für eine solche Divergenzvorlage ist eine uneinheitliche Rechtsprechung der jeweiligen Obergerichte. Eine solche lässt sich bei genauerer Analyse der bestehenden Rechtsprechung unschwer feststellen.

Unabhängig davon ist auch an eine Verfassungsbeschwerde zu denken.

Hilfreich wäre auch eine Art „Vorabprüfung“. In Steuerverfahren gibt es beispielsweise die Möglichkeit, im Vorfeld eines Streites eine verbindliche Auskunft beim Finanzamt einzuholen. Diese ist dann für die spätere Gestaltung bindend. Ein solches Verfahren schafft Rechtssicherheit. Diese wäre auch für Anwälte wünschenswert, die vor der Frage stehen, ein lukratives Mandat anzunehmen oder abzulehnen.

Teilweise wird daher vorgeschlagen, ein Clearingverfahren bei den Rechtsanwaltskammern einzuführen, dessen Ziel es ist, im Vorfeld eine verbindliche Auskunft über die Zulässigkeit eines anwaltlichen Auftrags herbeizuführen.