Die Strategie eines guten Strafverteidigers
von Rechtsanwalt Dr. Tobias Rudolph
Strafverteidigung ist Kunst und Kampf. Ein guter Verteidiger ist meist ein Fachanwalt für Strafrecht, d.h. verfügt über besondere Kenntnisse des Strafrechts und des Strafprozessrechts. Doch das ist nicht genug.
Für eine erfolgreiche Verteidigung gegen eine strafrechtliche Anklage bedarf es mehr als nur hervorragende Rechtskenntnisse. Man braucht eine Strategie. Niemand wird erfolgreich den Mount Everest besteigen, ohne sich vorher Gedanken über die Hindernisse gemacht zu haben, die auf dem Weg zum Gipfel auftauchen werden. Dasselbe gilt für den Weg zum Freispruch, zur Einstellung des Verfahrens oder zur Bewährungsstrafe.
Ein guter Strafverteidiger überlässt nichts dem Zufall.
1. Ein Beispiel für eine schlechte Verteidigungsstrategie
Ein Beispiel für eine schlechte Verteidigungsstrategie lieferte im Frühjahr 2018 der dänische U-Boot-Konstrukteur Peter Madsen. Dieser war wegen Mordes an einer Journalistin angeklagt, die unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen war.
Peter Madsen, der ein hochintelligenter Psychopath sein soll, war schon vor dem Prozess als genialer U-Boot und Raketenkonstrukteur bekannt. Der kreative Techniker, der sein Ingenieursstudium abgebrochen hatte, lieferte mit seinen Einlassungen im Prozess ein beeindruckendes Beispiel dafür, was eine schlechte Verteidigung ist.
Als Erbauer von U-Booten und Raketen bestand das Erfolgsgeheimnis von Peter Madsen im System „Trial and Error“. Unermüdlich und mit großer Leidenschaft probierte er Dinge aus. Stieß er bei der Konstruktion auf ein Problem, versuchte er es von Neuem. Immer wieder. So lange, bis das Problem gelöst wurde und er auf dem Weg zum Erfolg ein Stück weiter gekommen war. Peter Madsen hielt sich nicht lange mit wissenschaftlichen Forschungen oder Theorien auf. Er war ein Mann der Tat. Kein anderer hat es mit so wenig finanzieller und personeller Unterstützung im U-Boot- und Raketenbau so weit gebracht wie er.
Als am 11.08.2017 das von Madsen selbst gebaute U-Boot, die „Nautilus“, südlich von Kopenhagen in die Køgebucht unterging, konnte nur Peter Madsen gerettet werden. Die junge Journalistin Kim Wall, die ebenfalls mit an Bord gewesen war, war verschwunden. Es war bekannt, dass sie an demselben Tag mit Peter Madsen das U-Boot bestiegen hatte, um eine Reportage über dessen unkonventionelle Methoden und Erfolge beim U-Boot-Bau zu schreiben.
In seinen Einlassungen gegenüber der Polizei machte Peter Madsen nun das, was er auch als Ingenieur jahrelang erfolgreich getan hat: Stieß er auf ein Problem, passte er seine Strategie kurzerhand an. Zunächst behauptete er, er habe die Journalistin vor dem Untergang auf einer der Halbinseln in der Kopenhagener Bucht abgesetzt. Dann wurden Blutspuren der Frau im Inneren des gesunkenen U-Boots gefunden. Peter Madsen passte seine Einlassung nun an und erzählte, die Journalistin sei bei einem Unfall an Bord um Leben gekommen; er habe die Leiche auf hoher See bestattet.
Mord an der Journalistin Kim Wall
Als dann einige Tage später in der Kopenhagener Bucht der Körper der Frau gefunden wurde, passte der Konstrukteur seine Geschichte an. Nunmehr gab er an, die Journalistin sei während der Fahrt „mit voller Wucht“ auf den Kopf gefallen und dabei gestorben. Als dann schließlich gerichtsmedizinische Untersuchungen ergaben, dass der Körper keine Verletzungen aufwies, die mit dieser Darstellung in Einklang zu bringen sind, versuchte er es mit einer neuen Variation. Diesmal behauptete er, dass Frau Wall an einer Kohlenmonoxid-Vergiftung im U-Boot gestorben sein soll. Er bestritt nach wie vor, mit deren Tötung etwas zu tun zu haben. Als rechtsmedizinisch bewiesen wurde, dass die Leiche kurz nach dem Tod zerstückelt wurde, räumte er die darin liegende Störung der Totenruhe ein. Den Mord bestreitet er bis heute.
Hätten Sie Herrn Madsen geglaubt?
Die reine Faktenlage war dünn. Ein U-Boot war gesunken. Eine Frau, die einige Stunden zuvor das U-Boot betreten hatte, war verschwunden. Ihre Leiche wurde einige Tage später gefunden.
Diese Fakten alleine ließen für sich genommen nicht ohne weiteres den Schluss zu, dass Peter Madsen der Mörder war. Durch seine ständig neuen, widersprüchlichen und den Fakten angepassten Erklärungsversuchen, hat er sich jedoch strafprozessual sein eigenes Grab geschaufelt.
Die Technik des Trial and Error, die in der Ingenieurskunst zu genialen Erfolgen führte, erwies sich in als Verteidigungsstrategie in einem Strafprozess als verheerend.
2. Was hätte man bei der Verteidigung besser machen können?
Schweigen. Den richtigen Moment abwarten. Eine plausible Geschichte darstellen, die sich mit allen Fakten in Einklang bringen lässt. Ein Gespür dafür haben, wie ein Richter denkt. Und ein Ziel. Herr Madsen hatte offensichtlich keine klare Strategie.
„Wer den Hafen nicht kennt, in den er segeln will, für den ist kein Wind der richtige.“
(Seneca)
So ein spektakulärer Mordprozess spiegelt natürlich nicht den Alltag einer Strafverteidiger-Kanzlei. Schon gar nicht denjenigen von Verteidigern, die schwerpunktmäßig im Steuer– und Wirtschaftsstrafrecht tätig sind. Doch vieles, das hier offenkundig falsch gemacht wurde, lässt sich auch in alltäglichen Verfahren besser machen.
3. Erfolgreiche Verteidigungsstrategien
Wer erstmals Beschuldigter in einem Strafverfahren ist, weiß meist nicht, was auf ihn zukommt.
Es gibt viele Möglichkeiten ein Haus zum Einstürzen zu bringen.
Genauso viele Möglichkeiten gibt es, eine Anklage im Strafverfahren erfolgreich abzuwehren.
Die Aufgabe eines erfahrenen Strafverteidigers ist es, die beste Taktik zu entwickeln. Nach der Analyse der Fakten und der Rechtslage kommt es dabei darauf an, ein klares Verteidigungsziel zu entwickeln.
Im Folgenden werden einige typische Verteidigungsansätze aufgezeigt, die dazu führen können, dass ein Strafverfahren eingestellt wird oder mit einem Freispruch endet. Um herauszufinden, welches Ziel das in Ihrem Fall richtige ist, bedarf es Erfahrung, Mut, Durchsetzungskraft und ein scharfes Urteilsvermögen. Vor allem wichtig ist aber eines: Der Mensch, um den es geht. Eine gute Strafverteidigung entsteht immer dann, wenn Mandant und Anwalt optimal zusammenarbeiten.
Überblick
a) Die Einlassung des Beschuldigten
b) Sachverständige im Strafprozess
c) Fehlerhafte Zeugenaussagen
d) Vorsatz und Fahrlässigkeit
e) Notwehr und Notstand
f) Strafrechtliche Verwertungsverbot
g) Falsche Geständnisse
h) Verbot der Doppelbestrafung („ne bis in idem“)
i) Unschuldsvermutung („in dubio pro reo“)
j) Verjährung im Strafrecht
a) Die Einlassung des Beschuldigten
Von dem berühmten amerikanischen Strafverteidiger und Harvard-Professor Alan M. Dershowitz stammt der Satz, dass nur 20 % des Verteidigerhonorars auf die anwaltliche Tätigkeit entfallen. 80 % des Honorars seien die angemessene Gegenleistung für den fachkundigen Rat des Anwalts, ob sich der Beschuldigte zur Sache einlassen soll oder nicht.
Diese These ist gewiss überspitzt formuliert. Sie bringt jedoch zutreffend die Bedeutung der Einlassung des Beschuldigten als Schlüssel zum Erfolg zum Ausdruck.
Typischerweise raten erfahrene Strafverteidiger zu Beginn eines Verfahrens erst einmal zum Schweigen. Das hat einen guten Grund. Denn voreilige Erklärungsversuche führen meist nicht weiter. Auch die Versprechen von Polizeibeamten, dass ein frühes Geständnis ein „besseres Geständnis“ sei, werden selten erfüllt. Entschließt sich ein Beschuldigter im Laufe eines Verfahrens zu einem Geständnis oder zu einer noch weitergehenden Aufklärungshilfe gemäß § 31 BtMG (sogenannte Kronzeugenregelung), sollte dies nach sorgfältiger Aktenlektüre und gemeinsamer Strategieplanung mit dem Rechtsanwalt erfolgen. Der richtige Zeitpunkt spielt dabei genauso eine Rolle wie das Verteidigungsziel. So wie ein Kartenspieler sein Ass dann ausspielt, wenn es am meisten Wirkung entfaltet, sollte ein Geständnis zu einem Zeitpunkt abgegeben werden, wenn bereits absehbar ist, dass es die gewünschte positive Auswirkung auf den weiteren Verlauf des Verfahrens optimal entfaltet.
Aber auch dann, wenn die Tatvorwürfe bestritten werden, ist es immer sinnvoll, die Einlassung sorgfältig vorzubereiten. Um ein Gericht von der Unschuld des Angeklagten zu überzeugen, bedarf es in der Regel mehr als bloßes Schweigen. Vielmehr sind Richter am ehesten bereit, ihre Meinung zu ändern, wenn neue Fakten präsentiert werden können, die geeignet sind, die Hypothese der Anklage in einem anderen Licht erscheinen zu lassen.
b) Sachverständige im Strafprozess
Bei der Auswahl und Bewertung der Tatsachen, über die ein Gericht zu entscheiden hat, spielen Gutachten von Sachverständigen eine immer größere Rolle im Strafverfahren.
Die Aufgabe eines Sachverständigen ist es, dem Gericht spezielle Kenntnisse zu vermitteln. Bei Verkehrsunfällen ermitteln Gutachter beispielsweise die Geschwindigkeit von Fahrzeugen oder den Aufprallwinkel einer Kollision. War Alkohol im Spiel, spielt der Promillegehalt eine entscheidende Rolle. Leidet ein Täter an einer psychischen Erkrankung, hat ein psychiatrischer Sachverständiger zu beurteilen, inwieweit sich diese Erkrankung auf die Handlungs- und Entscheidungsfreiheit auswirkt. Im Internetstrafrecht, beispielsweise beim Vorwurf des Besitzes unerlaubter Kinderpornographie, spielen IT-Sachverständige oft die zentrale Rolle im Verfahren. Bei Urkundsdelikten werden Unterschriften wissenschaftlich verglichen.
Zunehmend bedienen sich die Ermittlungsbehörden auch der Hilfe von Wissenschaften, die man typischerweise nicht im Strafrecht erwartet. So berichtete beispielsweise im Mordfall Peggy Knobloch die Presse davon, dass die Spur zu einem Tatverdächtigen durch eine Expertin für die Analyse von Pflanzenpollen gefunden wurde.
„Wes Brot ich ess, des Lied ich sing“
(Martin Luther)
Ein guter Strafverteidiger überlässt die Auswahl des Gutachters nicht dem Zufall. Es ist sicherzustellen, dass das Gericht keinen Sachverständigen auswählt, der von gerichtlichen Aufträgen abhängig ist.
In einigen Fällen führt der Weg zum Erfolg auch über die Beauftragung eines eigenen Experten. Vom Strafverteidiger wird nicht nur Fantasie erwartet, sondern auch ein Überblick über die technischen und wissenschaftlichen Möglichkeiten von Gutachten. Ein Beispiel für eine „originelle“, aber durchaus erfolgversprechende Verteidigungsstrategie, kann beispielsweise auch eine Visualisierung eines Tathergangs sein. Nicht nur Drachen und Dinosaurier lassen sich heutzutage am Computer mit vergleichsweise geringem Aufwand zum Leben erwecken. Eine gut gemachte grafische Animation, mit der ein Tathergang dem Gericht „vor Augen geführt wird“, kann manchmal viel mehr bewirken als tausend Worte.
c) Fehlerhafte Zeugenaussagen
Zeugen sind das mit Abstand unzuverlässigste Beweismittel im Strafprozess. Dies ist auch Richtern und Staatsanwälten bewusst. Allerdings werden in der Praxis nicht immer die notwendigen Konsequenzen aus dieser Erkenntnis gezogen.
Entgegen der landläufigen Meinung ist ein lügender Zeuge nicht ohne Weiteres zu erkennen. Wenn jemand beispielsweise auf dem Zeugenstuhl sitzt und dabei schwitzt, ist dies eine normale Reaktion auf eine unangenehme und ungewohnte Umgebung. Umgekehrt vermitteln oft kaltblütige Lügner den Eindruck von Souveränität und wirken nicht selten sogar sympathisch. Es ist auch mit den modernen Methoden der Wissenschaft praktisch nicht möglich, an dem Verhalten, der Herkunft oder der Vorgeschichte eines Menschen zu erkennen, ob er die Wahrheit sagt. Selbst Lügendetektoren werden von der Rechtsprechung als unzulässiges Beweismittel angesehen – obwohl sie im Einzelfall durchaus dazu beitragen könnten (und sollten!) – Unschuldige vor einer ungerechten Verurteilung zu bewahren.
Zeugen, die vor Gericht bewusst lügen, sind ohnehin eher die Ausnahme. Sie werden oft enttarnt – und zwar deshalb, weil sich ihre Einlassung nicht in Einklang mit den objektiven Fakten bringen lässt.
Die zuverlässigste Methode, Falschaussagen zu entlarven, ist die inhaltliche Analyse und der Abgleich mit objektiven Fakten.
Dies gilt auch und gerade in den Fällen, bei denen Zeugen unabsichtlich die Unwahrheit sagen. So etwas kommt sehr viel häufiger vor als man glaubt. Das menschliche Gehirn ist extrem fehleranfällig. Es bedarf daher nicht einmal böswilliger Suggestionen oder Beeinflussung, um falsche Erinnerungen hervorzubringen. Diese können auch dann entstehen, wenn beispielsweise ein Zeuge besonders unter Druck steht.
In einem Experiment lief ein dunkel gekleideter Schauspieler aus einem Haus. Mehrere Passanten konnten ihn sehen. Befragte man nun diese Passanten, ob sie die Person, die gerade an ihnen vorbeigelaufen war, beschreiben können, kam meist die Antwort, das sei nicht möglich. Die Zeugen sagten die Wahrheit: Sie hatten keinen Grund, dem vorbeilaufenden Mann Beachtung zu schenken.
Als das Experiment in exakt derselben Konstellation wiederholt wurde, stellte man den Zeugen nun die Frage:
„In dem Haus wurde gerade ein Kind getötet. Der Mörder ist hier vor einer Minute an ihnen vorbei gerannt. Können Sie ihn beschreiben?“
Obwohl durch Kameras dokumentiert war, dass die Passanten auch hier in Wirklichkeit dem vorbeilaufenden Schauspieler überhaupt keine Beachtung geschenkt hatten, sahen sich die Zeugen nun subjektiv in der Lage, detaillierte Beschreibungen des Mannes abzugeben – die ganz und gar nicht der Realität entsprachen!
Die Zeugen waren sich sicher, etwas Gutes zu tun. Sie merkten nicht, dass ihnen ihre Erinnerung einen Streich spielte. Statt „einen Film aus dem Gedächtnis“ abzurufen aktivierten die Zeugen unbewusst Erinnerungen aus einer ganz Ecke ihres Gehirns. Diese Bilder hatten mit der Wirklichkeit überhaupt nichts zu tun.
Derartige Fehlleistungen des menschlichen Gehirns sind oft die Ursache für verheerende Fehlentscheidungen von Gerichten. Ein Strafverteidiger muss frühzeitig und energisch darauf hinarbeiten, dass falsche Erinnerungen nicht zur Grundlage einer falschen Verurteilung werden.
Über ein Experiment, das aus Anlass eines Nürnberger Falles durchgeführt wurde, wird hier berichtet:
Ein berühmtes Experiment zur Unzulänglichkeit menschlicher Wahrnehmung lässt sich hier nachvollziehen:
d) Vorsatz und Fahrlässigkeit
Viele Strafverfahren drehen sich im Kern um die Frage, ob ein mutmaßlicher Täter vorsätzlich handelt oder vorsätzlich handelte. Vorsatz wird dabei juristisch etwas oberflächlich definiert als „Wissen und Wollen der Tat“. Die Maßstäbe, die an den Nachweis von Vorsatz angelegt werden, sind oft viel niedriger als man erwartet.
Böse Zungen behaupten:
Vorsatz findet im Kopf des Richters statt. Nicht im Kopf des Täters.
Dies zynische Zuspitzung hat einen wahren Kern. Eine effiziente Verteidigungsstrategie wird sich daher niemals damit begnügen, zu sagen „Das habe ich nicht gewusst!“ oder „Das habe ich nicht vorhergesehen“. Erfolgversprechender ist es, sich frühzeitig auf die objektiven Fakten und die exakte Auslegung des Gesetzes zu konzentrieren.
Wenn es beispielsweise um den Vorwurf der Steuerhinterziehung geht, ist herauszuarbeiten, dass eine unternehmerische Gestaltung steuerlich zulässig ist. Wenn es um den Vorwurf der Körperverletzung geht, ist der Frage nachzugehen, ob eine bestimmte Verletzung auch andere Ursachen haben kann. Beim Vorwurf der unerlaubten Entfernung vom Unfallort hat die Verteidigung sich darauf zu konzentrieren, wie laut „ein Knall“ einer Kollision war. Wenn es gelingt, das Gericht davon zu überzeugen, dass eine Kollision zweier PKW vom Inneren des Fahrzeugs aus nicht zu hören war, wird der Richter auch glauben, dass der Fahrer den Unfall nicht bemerkt hat – und somit ohne Vorsatz handelte.
e) Rechtfertigungsgründe: Notwehr und Notstand
Eine Tat, die durch Notwehr gerechtfertigt ist, ist nicht strafbar. Notwehr ist allerdings nicht der einzige Rechtfertigungsgrund, der in Deutschland zum Ausschluss der Strafbarkeit führt. Häufig übersehen wird beispielsweise der rechtfertigende Notstand (§ 34 StGB). Auf diesen Paragraphen kann sich beispielsweise derjenige berufen, der unerlaubte heimliche Tonaufnahmen bei der Befragung durch Polizeibeamte anfertigt, wenn keine andere Möglichkeit besteht, unzulässige Drohungen durch die Ermittler zu dokumentieren.
In Alltagsverfahrens, beispielsweise bei Schlägereien unter Jugendlichen, ist es jedoch nicht immer leicht, ein Gericht davon zu überzeugen, dass eine Notwehrlage vorlag. In der Praxis ist Justitia nicht so blind, wie es die Theorie verlangt. Wenn beispielsweise Polizeibeamten behaupten, ein Beschuldigter habe bei der Festnahme das Feuer eröffnet, wird ihnen im Zweifel geglaubt. Wenn der Angeklagte hingegen behauptet, dass die Polizeibeamten den Schusswechsel eröffneten, so bedarf es enormer Anstrengungen der Verteidigung, diese Behauptung zu beweisen.
In einem Fall, der kürzlich vom Landgericht Köln entschieden wurde, ging es um die Frage, wer zuerst schoss. Beamte eines Sondereinsatzkommandos der Polizei (SEK) hatten das Feuer auf einen Verdächtigen eröffnet, der im Auto saß und zurück schoss. Nach einem langen aufsehenerregenden Prozess musste die Anklagebehörde einräumen, dass die Darstellung des Beschuldigten richtig war – und die Polizisten vor Gericht gelogen hatten. Dies wurde auch vom Bundesgerichtshof bestätigt.
f) Strafrechtliche Verwertungsverbote
Verwertungsverbote spielen in der juristischen Ausbildung eine weitaus größere Rolle als in der Praxis eines Fachanwalts für Strafrecht. Gleichwohl – oder gerade deshalb – werden diese manchmal von der Anklagebehörde übersehen. Dann ist der Strafverteidiger gefordert, darauf hinzuwirken, dass unzulässige Beweise nicht erhoben oder zumindest nicht prozessual verwertet werden. In der Hauptverhandlung sind entsprechende Widersprüche gegen die Verwertung zu Protokoll zu geben.
Inhaltlich besteht ein Verwertungsverbot beispielsweise dann, wenn gegen die Vorschrift des § 136a StPO verstoßen wurde. Danach ist es verboten, dass ein Polizeibeamter einen Beschuldigten oder Zeugen bei einer Befragung foltert, bedroht oder täuscht. Unverwertbar sind auch Aussagen, die unter menschunwürdigen Bedingungen zustande gekommen sind.
Verstöße gegen den Richtervorbehalt bei Hausdurchsuchungen führen nur unter besonderen Umständen zu einem strafrechtlichen Verwertungsverbot. Dasselbe gilt für Blutentnahmen bei Verkehrsverstößen, die nicht durch einen Arzt vorgenommen wurden.
Eine größere praktische Bedeutung haben Verwertungsverbote im Wirtschafts– und Steuerstrafrecht. Hintergrund hierfür ist, dass beispielsweise Geschäftsführer in einem Insolvenzverfahren gesetzlich verpflichtet sind, Auskunft gegenüber dem Insolvenzverwalter zu geben – selbst dann, wenn sie dabei Umstände preisgeben, die den Weg zu einer Verurteilung wegen Insolvenzverschleppung ebnen könnten. Derartige zwangsweise preisgegebenen Informationen dürfen im Strafverfahren nicht verwertet werden (vgl. § 97 Abs. 1 S. 3 Insolvenzordnung). Ähnliche Mechanismen gelten im Steuerstrafrecht (§ 393 Abgabenordnung). Auch hier ist das gesetzlich angeordnete Verwertungsverbot der Ausgleich dafür, dass Bürger gezwungen werden, sich selbst zu belasten.
g) Falsche Geständnisse
Falsche Geständnisse sind gar nicht so selten. Viele Beschuldigte, die sich mehreren Stunden einem polizeilichen Verhör ausgesetzt sehen, verlieren die Nerven. Im Zustand der emotionalen Erschöpfung sendet das Gehirn den Notruf „Ich will hier raus, egal wie.“ Dieser fatale Kurzschluss im Gehirn führt dazu, dass man den Beamten diejenigen Aussagen liefert, die sie gerade hören wollen, nach dem Motto „ja, ja … so wird es schon gewesen sein.“ Im Protokoll der Ermittlungsbeamten liest sich das dann später wie eine flüssige Sachverhaltsschilderung eines geständigen Täters.
In den letzten Jahren sind eine Reihe von spektakulären Fällen bekannt geworden, bei denen falsche Geständnisse zu verheerenden Fehlurteilen geführt haben. So gestanden laut Polizeiprotokoll die angeklagten Familienangehörigen im Fall des Bauern Rudolf Rupp, dass sie den Familientyrannen „zerstückelt und den Hunden vorgeworfen“ haben.
Einige Jahre später – nachdem die „geständigen Täter“ bereits vom Landgericht Ingolstadt verurteilt worden waren, stellt sich heraus, dass diese Aussagen nicht wahr sein konnten. Der vermisste Bauer wurde tot, aber körperlich unversehrt, in der Donau gefunden. Erst nach einigem Hin und Her kam es zu einer Wiederaufnahme des Strafverfahrens mit anschließendem Freispruch.
Auch im Fall des Ulvi Kulaç, der bereits vom Landgericht Hof wegen Mord an der vermissten neunjährigen Peggy Knobloch zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden war, stellte sich später heraus, dass sein Geständnis – auf das sich die Verurteilung maßgeblich gestützt hatte – nicht richtig sein konnte. Auch stellte sich im anschließenden Wiederaufnahmeverfahren (das mit einem Freispruch endete) heraus, dass der geistig zurückgebliebene Beschuldigte sich letztlich nur dem Druck der Polizei gebeugt hat. Er selbst hätte gar nicht über die intellektuellen Fähigkeiten verfügt, um das auszuführen, was die Polizei ihm ins Protokoll diktierte.
Unter Druck abgegebene Geständnisse spielen auch dann eine Rolle, wenn ein Angeklagter in erster Instanz sich auf einen faulen Deal vor Gericht einlässt, in der Hoffnung, beispielsweise aus der Untersuchungshaft freizukommen. Entscheidet sich der Angeklagter im Laufe des nachfolgenden Berufungsverfahrens, doch um sein Recht und um die Wahrheit zu kämpfen, dann ist unter bestimmten Voraussetzungen das Geständnis aus der ersten Instanz rechtlich nicht mehr verwertbar.
Im Ergebnis ist ein einmal abgegebenes Geständnis nicht immer das letzte Wort. Um ein Gericht dazu zu bringen, sich ein unvoreingenommenes neues Bild vom Geschehen zu machen, bedarf es allerdings erheblicher Anstrengungen durch die Verteidigung. Besser ist es, von Anfang an mit einem klaren Konzept zu arbeiten und sich genau zu überlegen, wann und wie man sich zur Sache einlässt.
h) Verbot der Doppelbestrafung („ne bis in idem“)
Niemand darf wegen derselben Tat zweimal bestraft werden. Das Verbot der Doppelbestrafung, das auf den lateinischem Rechtsgrundsatz „ne bis in idem“ zurück geht, spielt häufig eine Rolle im Strafverfahren und wird nur selten thematisiert.
Relativ einfach zu erkennen ist ein Verstoß gegen diesen Rechtsgrundsatz, der Verfassungsrang hat und auch in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EGMR) niedergelegt ist, wenn eine erste Verurteilung in Deutschland erfolgte. Dann stellt sich in einem zweiten Strafverfahren die Frage, ob es sich um „dieselbe Tat“ handelt. Diese Frage zu beantworten ist nicht immer ganz einfach. Wurde ein Unternehmer beispielsweise wegen des Vorenthaltens von Sozialversicherungsbeiträgen (§ 266a StGB) verurteilt, so ist fraglich, ob daneben noch eine Verurteilung wegen der Hinterziehung von Lohnsteuer möglich ist. Ähnliche Probleme können auftauchen, wenn jemand wegen Korruptionsdelikten verurteilt wurde, aber nicht wegen der damit oft einhergehenden Hinterziehung von Einkommenssteuer (vgl. § 4 Abs. 5 Nr. 10 EStG). In derartigen Konstellation muss ein Verteidiger vor allem das juristische Handwerkszeug gut beherrschen.
Komplizierter wird es, wenn eine vorangegangene Verurteilung im Ausland erfolgt ist. Hier bestimmt Artikel 54 SDÜ (Durchführungsvereinbarung zum Schengener Übereinkommen), dass eine Strafverfolgung in einem anderen Staat, der das völkerrechtliche Übereinkommen unterzeichnet hat, grundsätzlich ausgeschlossen ist.
Strategisch herausfordernd für einen Strafverteidiger ist die Konstellation, wenn in mehreren Staaten parallel strafrechtliche Ermittlungsverfahren anhängig sind, ohne dass es in dem einen oder anderen Staat bereits zu einer Verurteilung gekommen ist. Hier stellt sich zunächst die Frage, ob die jeweiligen Vorwürfe tatsächlich identisch sind bzw. sich überschneiden. Außerdem hat man vorausschauend darauf zu achten, ob es sinnvoll ist, in dem einen Staat eine Verurteilung zu akzeptieren, in der Hoffnung, dadurch in dem anderen Staat eine Einstellung des Verfahrens zu bewirken. Dies macht vor allem dann Sinn, wenn absehbar ist, dass die Strafe in dem einem Land milder ausfällt, als in dem anderen.
Neben einer vorausschauenden Weitsicht macht es in derartigen Konstellationen oft auch Sinn, mit ausländischen Kollegen zusammenzuarbeiten. Ein guter Strafverteidiger muss grenzüberschreitend denken.
i) Unschuldsvermutung („in dubio pro reo“)
Im Zweifel für den Angeklagten. Von dem Rechtsgrundsatz „ in dubio pro reo“ hat jeder schon einmal gehört. Die dahinter stehende Unschuldsvermutung ist der Tragpfeiler jedes fairen Strafverfahrens.
Die Vorstellungen der Menschen darüber, wann von einem „Zweifel“ die Rede sein kann, gehen indes manchmal sehr weit auseinander.
Ein Beispiel hierzu ist der Prozess gegen den Meteorologen und Fernsehmoderator Jörg Kachelmann. Würde man eine bundesweite Umfrage machen, so wäre wahrscheinlich ein Drittel der Bevölkerung nach wie vor davon überzeugt, dass Herr Kachelmann schuldig der sexuellen Nötigung an seiner damaligen Gefährtin ist. Diese Position hat auch die Staatsanwaltschaft bis zum Schluss vertreten – selbst nachdem schon längst klar war, dass die einzige Belastungszeugin sich in einer Aussage gegen Aussage-Konstellation in Widersprüche verstrickt und in wesentlichen Punkten gelogen hatte.
Die Kunst eines erfolgreichen Strafverteidigers besteht darin, sicherzustellen, dass die Unschuldsvermutung nicht zu einer Glaubensfrage verkommt. Nur durch akribisches Herausarbeiten der zu Gunsten des Angeklagten sprechenden Fakten kann ein Freispruch erkämpft werden.
Eine Verteidigungsstrategie, die blauäugig darauf vertraut „Man kann mir sowieso nichts nachweisen“ ist von vornherein zum Scheitern verurteilt.
j) Verjährung im Strafrecht
Die regelmäßige Verjährungsfrist im Strafrecht beträgt fünf Jahre. Bei besonders schweren Delikten verlängert sich die Frist auf zehn Jahre oder sogar länger. Mord und Völkermord verjähren nie.
Von der sogenannten Verfolgungsverjährung ist die Vollstreckungsverjährung zu unterscheiden. Damit bezeichnet man den Zeitraum, während dem ein bereits rechtskräftig Verurteilter noch in Haft genommen werden kann bzw. eine Geldstrafe noch einzutreiben ist. Nach dem Ablauf einiger Jahre (beispielsweise wenn der Täter im Ausland auf der Flucht lebte), kann eine rechtskräftig verhängte Freiheitsstrafe nicht mehr vollstreckt werden.
Verjährung ist im Strafrecht von Amts wegen zu prüfen. Das bedeutet, dass der Staatsanwalt schon gar nicht erst anklagen darf, wenn eine Straftat verjährt ist. Ein Gericht darf nicht verurteilen, wenn die Verjährungsfristen abgelaufen sind. Aufgabe des Strafverteidigers in diesen Konstellationen ist es, darauf zu achten, dass nichts übersehen wird.
Eine besondere Herausforderung für die Verteidigungsstrategie besteht dann, wenn Verjährung zwar noch nicht eingetreten ist, aber in absehbarer Zeit bevorsteht. Zu einer geschickten Taktik gehört, dies im Blick zu haben. Das gilt insbesondere dann, wenn parallel zur strafrechtlichen Verjährung auch andere Ansprüche verjähren, beispielsweise zivilrechtliche Schadensersatzansprüche und / oder Steuerforderungen des Finanzamts. Insbesondere das Zusammenspiel von steuerlicher und strafrechtlicher Verjährung ist sehr komplex, bietet aber auch Ansatzpunkte für eine gute Verteidigung.
4. Fazit
Es gibt nicht den einen Weg zum Ziel einer erfolgreichen Verteidigung im Strafrecht. Aber es gibt viele Zwischenziele, die zu Beginn der Strategieplanung in Angriff genommen werden sollten. Lässt sich eines dieser Zwischenziele erreichen, ist es nicht mehr weit zu einer Einstellung des Verfahrens oder einem Freispruch.