„Nazi-Mörder“ oder Meinungsfreiheit? – Verfassungsbeschwerde gegen Strafe wegen Äußerungen über Franz Josef Strauß (Az.: 1 BvR 2489/24)
Darf ein Überlebender des Zweiten Weltkriegs den ehemaligen bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß als „Nazi-Mörder“ und „Hitlers Auftragskiller“ bezeichnen? Diese Frage liegt dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe in dem Verfahren 1 BvR 2489/24 zur Entscheidung vor, das Rechtsanwalt Dr. Tobias Rudolph im November 2024 angestrengt hat. Der Fall berührt grundsätzliche Fragen zum Spannungsverhältnis zwischen Meinungsfreiheit, Ehre und Würde Verstorbener. Die anstehende Entscheidung könnte damit einen Meilenstein für die Weiterentwicklung des postmortalen Persönlichkeitsrechts bedeuten.
Aktuelle Entwicklung bei der Beleidigung von Politikern
In den letzten Jahren haben Beleidigungen gegen Politiker deutlich an Aufmerksamkeit gewonnen. Nicht selten führten scharfe oder polemische Äußerungen sogar zu medienwirksamen Hausdurchsuchungen – wie etwa bei Beschuldigten, die Amtsträger als „Schwachkopf“ oder mit ähnlich abwertenden Begriffen bezeichneten. Die Staatsanwaltschaften nehmen solche Fälle inzwischen verstärkt in den Blick, insbesondere wenn sie den Tatbestand der gegen Personen des politischen Lebens gerichteten Beleidigung (§§ 185, 188 StGB) berühren.
Der Gesetzgeber hat bereits vor einigen Jahren § 188 StGB (Beleidigungen gegen Personen des politischen Lebens) erweitert, um öffentlichen Amtsträgern und Politikern besser rechtlichen Schutz zu gewähren. Dahinter steht die Sorge, dass die zunehmende Verrohung des politischen Diskurses sowohl die freie demokratische Auseinandersetzung als auch das persönliche Sicherheitsgefühl von Politikern gefährdet. In der Praxis zeigt sich aber, dass nicht jede scharfe Kritik an einem Politiker automatisch eine Strafbarkeit nach §§ 185, 188 StGB begründet. Entscheidend ist stets, ob im Einzelfall die Grenzen zur persönlichen Diffamierung überschritten und die öffentliche Wirksamkeit des Betroffenen erheblich beeinträchtigt wird.
Auch bei dem Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht ist die Kernfrage, ob die Äußerungen des Beschwerdeführers noch als Ausdruck seiner (zugespitzten) Meinung geschützt sind oder bereits eine unzulässige Verletzung des postmortalen Persönlichkeitsrechts darstellen.
Der traurige Hintergrund des Falls
Der heute 90-jährige Beschwerdeführer hat den Zweiten Weltkrieg als Kind in Rumänien miterlebt. Im Alter von neun Jahren musste er mit ansehen, wie sein Vater von einem Wehrmachtssoldaten erschossen wurde. Dieses traumatische Erlebnis verfolgt ihn bis heute. Als der Beschwerdeführer Jahrzehnte später ein Foto des ehemaligen bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß in Wehrmachtsuniform sah, glaubte er, in Strauß den mutmaßlichen Mörder seines Vaters wiederzuerkennen.
Franz Josef Strauß, von 1978 bis 1988 bayerischer Ministerpräsident, hatte im Zweiten Weltkrieg als Offizier an der Ostfront gedient. Die mehrfachen Versuche des Beschwerdeführers, die Behörden auf den damaligen Mord aufmerksam zu machen und neue Ermittlungen anzustoßen, waren erfolglos. Bis heute ist der Tod seines Vaters nicht aufgeklärt.
Die umstrittenen E-Mails
In den Jahren 2022 und 2023 verschickte der Beschwerdeführer mehrere E-Mails an den bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder und andere Regierungsmitglieder. Er prangerte darin die unzureichende Aufarbeitung der NS-Vergangenheit und die mangelnde Anerkennung seiner eigenen leidvollen Erfahrungen an. Die E-Mails waren teils sehr harsch formuliert und enthielten unter anderem folgende Passagen:
E-Mail vom 23. Oktober 2022:
„Hey Herr Söder,
[…] Ihre Menschenverachtung und Arroganz gegenüber Migranten, die von der Bundesrepublik abgekauft wurden, um hier als Sklaven ausgebeutet zu werden, sind erschreckend, aber für einen Bewunderer von Nazi Mördern wie Franz Josef Strauß, dem mutmaßlichen Mörder meines Vaters, nichts Neues. […]“
E-Mail vom 26. Dezember 2022:
„An den inhumanen Nachwuchs der Nazi Mörder und schrecklichsten Barbaren des vorigen Jahrhunderts.
Dieses Jahr habe ich den 79. Weihnachtsabend ohne meinen Vater verbracht, der von Nazi Verbrechern um F.J. Strauß ermordet, verschleppt und irgendwo wie ein Tier verscharrt wurde. Auch mich haben die Barbaren niedergeschossen und blutend liegen gelassen. Als die deutsche Kugel mich traf, war ich neuneinhalb Jahre alt.
Es war meine erste Begegnung mit Deutschen, die sich für immer in mein Gedächtnis eingeprägt hat. Den Mörder habe ich später auf einem Bild erkannt. Es war der junge Nazi Offizier F.J. Strauß, der spätere MP Bayerns und Mentor Söders. […]“
E-Mail vom 10. Januar 2023:
„Anstatt von einer Party zur anderen zu hetzen, sollten Sie sich lieber Zeit nehmen, auf meine Briefe zu antworten, so wie es in zivilisierten Ländern üblich ist. Oder ist das für den Nachwuchs der Nazi Mörder zu viel verlangt?
Sie tun es nicht, weil Sie Dreck am Stecken haben, Ihre Bewunderung zu dem Nazi Mörder F.J. Strauß nicht aufgeben wollen und vor Angst schlottern, dass man Ihnen auf die Schliche kommt. […]“
E-Mail vom 25. Januar 2023:
„Hallo Herr Söder,
Nicht dass Sie noch keinen meiner Briefe aus rassistisch-nationalistischen Gründen beantwortet haben, unterstreicht Ihre Kulturlosigkeit und Menschenverachtung. Kein Wunder, da Ihr Mentor der Nazi Mörder und Hitlers Auftragskiller F.J. Strauß war.
Während der Mörder meines Vaters nur kurze Zeit in Gefangenschaft war, musste ich und viele meiner Landsleute drei Jahre Zwangsarbeit verrichten, und das, weil uns die deutschen Barbaren als Deutsche stigmatisiert hatten, als Deutsche, die wir niemals waren. […]“
Die strafrechtliche Verurteilung
Die Familie von Franz Josef Strauß sah in den Äußerungen eine schwere Verletzung des postmortalen Persönlichkeitsrechts ihres Vaters und stellte Strafantrag wegen Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener (§ 189 StGB). Die bayerischen Gerichte verurteilten den Beschwerdeführer zu einer Geldstrafe. Ihre Begründung: Die Bezeichnungen „Nazi-Mörder“ und „Hitlers Auftragskiller“ seien unwahre Tatsachenbehauptungen, die geeignet seien, das Andenken von Franz Josef Strauß erheblich zu beeinträchtigen.
Die Verfassungsbeschwerde
Vor dem Bundesverfassungsgericht wird der Beschwerdeführer von Rechtsanwalt Dr. Tobias Rudolph vertreten. Die Beschwerde macht geltend, dass die strafrechtliche Verurteilung gegen das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung (Art. 5 Abs. 1 GG) verstößt. Nach Überzeugung von Dr. Rudolph haben die Vorinstanzen das Gewicht der Meinungsfreiheit unterschätzt und das postmortale Persönlichkeitsrecht von Franz Josef Strauß unangemessen stark gewichtet.
Zentral ist vor allem die Frage, ob es sich bei den umstrittenen E-Mail-Passagen tatsächlich um Tatsachenbehauptungen oder vielmehr um Werturteile handelt, die vom Grundrecht der Meinungsfreiheit geschützt sind. Nach Auffassung des Beschwerdeführers muss seine persönliche Kriegserfahrung und Traumatisierung bei der rechtlichen Bewertung angemessen berücksichtigt werden.
Gleichzeitig wirft die Beschwerde den Gerichten vor, den historischen und persönlichen Kontext, der die Äußerungen geprägt hat, nicht ausreichend in ihre Abwägung einbezogen zu haben. Diese besonderen Umstände – die traumatische Kindheit des Beschwerdeführers, das bis heute unbeantwortete Schicksal seines Vaters und die Rolle der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg – hätten im Urteil eine größere Rolle spielen müssen.
Dr. Rudolph argumentiert, dass es nicht nur um eine persönliche Ungerechtigkeit geht, sondern um grundsätzliche Fragen: Wie weit darf Meinungsfreiheit reichen, wenn eine Person dem Verdacht nach von NS-Verbrechen betroffen war? Und in welchem Maß genießt das Andenken Verstorbener Schutz, wenn kritische oder sogar polemische Äußerungen mit einer konkreten Lebenserfahrung verbunden sind?
Verfassungsrechtliche Hintergründe zur Meinungsfreiheit
Die Meinungsfreiheit ist grundlegend für eine lebendige Demokratie. Sie erlaubt es, auch unbequeme, provozierende oder polemische Äußerungen zu tätigen. Allerdings stößt sie an Grenzen, insbesondere dann, wenn andere Rechtsgüter (z. B. das Persönlichkeitsrecht oder die öffentliche Sicherheit) auf dem Spiel stehen.
Abgrenzung zwischen Tatsachenbehauptungen und Werturteilen
- Tatsachenbehauptungen können durch Beweise auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft werden. Unwahre Tatsachenbehauptungen, die dem Ruf einer Person schaden, sind nicht durch Art. 5 Abs. 1 GG geschützt.
- Werturteile gelten als subjektive Meinungsäußerungen und sind grundsätzlich selbst dann vom Grundgesetz gedeckt, wenn sie scharf oder polemisch ausfallen.
Das postmortale Persönlichkeitsrecht
Verstorbene haben keinen eigenen Grundrechtsschutz mehr. Doch ihr Ansehen wird durch das postmortale Persönlichkeitsrecht geschützt, das von den Angehörigen geltend gemacht werden kann. Dieser Schutz ist allerdings schwächer als der Lebender und muss in jedem Einzelfall gegen die Meinungsfreiheit abgewogen werden.
Mögliche Auswirkungen der Entscheidung
Das Bundesverfassungsgericht könnte hier wichtige Eckpfeiler setzen:
- Abwägungskriterien für postmortales Persönlichkeitsrecht und Meinungsfreiheit
Das Gericht könnte herausarbeiten, wann und wie die Ehre eines Verstorbenen hinter dem Interesse an der öffentlichen Diskussion – etwa über historische Schuld und Verantwortung – zurücktreten muss. - Berücksichtigung persönlicher Betroffenheit und historischer Hintergründe
Besonders in Fällen, in denen traumatische Erlebnisse oder Kriegsverbrechen eine Rolle spielen, besteht Bedarf an klaren Leitlinien: Wie stark soll der individuelle Kontext in die juristische Würdigung einfließen? - Präzisierung des Umgangs mit kritischen oder provozierenden Äußerungen
Eine Entscheidung zugunsten des Beschwerdeführers könnte die Grenzen der Meinungsfreiheit erweitern und klären, welche Formen scharfer Kritik gegenüber historischen Figuren grundsätzlich zulässig sind.
Ob, wann und wie das Bundesverfassungsgericht entscheiden wird, ist offen. In verfassungsrechtlichen Verfahren können Monate oder Jahre vergehen, bis ein Urteil ergeht.
Ausblick: Beleidigung von Politikern und die Bedeutung von § 188 StGB
Der vorliegende Fall hat zwar nicht unmittelbar § 188 StGB zum Gegenstand. Doch im weiteren Umfeld rund um das Persönlichkeitsrecht, gerade im politischen Kontext, ist eine deutliche Verschärfung der Gesetzeslage zu beobachten. § 188 StGB stellt einen Qualifikationstatbestand dar, mit dem Beleidigungen gegen Personen des öffentlichen Lebens (z. B. Politiker) strenger geahndet werden können, wenn sie geeignet sind, deren öffentliche Tätigkeit erheblich zu erschweren.
Auch wenn hier ein verstorbener Politiker betroffen ist und die Strafvorschriften gegen Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener (§ 189 StGB) zur Anwendung kamen, bewegt sich die Diskussion insgesamt in ein Spannungsfeld: Das Bedürfnis, politische Amtsträger und ihr Wirken zu schützen, trifft auf das Grundrecht der Meinungsfreiheit und die Notwendigkeit einer offenen, auch kritischen oder polemischen Debattenkultur.