Verfassungsbeschwerde

Das deutsche Recht kennt neben dem regulären Instanzenzug weitere Rechtsbehelfe. Als „letzte Möglichkeit“ (neben der Individualbeschwerde zum EGMR) steht jedem Bürger unter besonders engen Voraussetzungen die Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a und 4b GG und §§ 90 ff. BVerfGG offen. Das Bundesverfassungsgericht hat seinen Sitz in Karlsruhe. Es handelt sich bei der Verfassungsbeschwerde um einen sog. außerordentlichen Rechtsbehelf, in dem ausschließlich die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts untersucht wird. Daher ist nicht jedes Verfahren für einen „Gang nach Karlsruhe“ geeignet.

Die Verfassungsbeschwerde ist das häufigste Verfahren, das am Bundesverfassungsgericht verhandelt wird (ca. 6000 Fälle pro Jahr, entspricht ca. 96 % der anhängigen Verfahren), zugleich aber auch das mit den geringsten Erfolgsaussichten (nur ca. 1 % Erfolgsquote). Das liegt unter anderem daran, dass die Verfassungsbeschwerde strengen Anforderungen an die Begründung unterliegt. Das Bundesverfassungsgericht entscheidet vergleichsweise schnell innerhalb von ein bis zwei Jahren, manche Verfahren können sich jedoch auch über mehrere Jahre hinziehen.

Das Bundesverfassungsgericht selbst betont gerne, dass es keine „Superrevisionsinstanz“ ist. Das bedeutet, dass das Gericht nur in ganz seltenen Ausnahmefällen korrigierend eingreift. Das Selbstverständnis der 16 Richter in Karlsruhe ist es nicht, „alles besser zu wissen“ als tausende ihrer Kollegen in der gesamten Republik. Vielmehr verstehen sich die Verfassungsrichter als eine Art Mittler zwischen Verfassung, dem Volk und der Politik. Dies begründet einerseits das hohe Ansehen des Gerichts. Die Kehrseite der richterlichen Zurückhaltung („judicial self-restraint“) ist allerdings die geringe Erfolgsquote, insbesondere von Verfassungsbeschwerden.

Das Bundesverfassungsgericht kann einem Grundrechtsverstoß auf drei Arten abhelfen: Es kann die Verfassungswidrigkeit eines Aktes der öffentlichen Gewalt feststellen, eine verfassungswidrige Entscheidung aufheben und die Sache an ein zuständiges Gericht zurückverweisen oder ein Gesetz für nichtig erklären. Das Bundesverfassungsgericht spricht dem Verletzten hingegen keinen Schadensersatz oder eine Entschädigung zu und trifft selbst auch keine Maßnahmen der Strafverfolgung.

Verfassungsrecht und Strafrecht

In der Praxis betreffen viele Verfassungsbeschwerden strafrechtliche Verurteilungen oder strafprozessuale Zwangsmaßnahmen. Das liegt nicht nur daran, dass es sich dabei um die schwersten Eingriffe handelt, die einem Bürger vom Staat zugefügt werden können. Vielmehr sind Verfassungsrecht und Strafrecht untrennbar miteinander verbunden. Denn die Grenzen dessen, was Polizeibeamten, Staatsanwälten oder Richtern erlaubt ist, werden durch die Grundrechte der Bürger bestimmt. Strafprozessrecht wird daher auch als „geronnenes Verfassungsrecht“ bezeichnet. Andere sprechen vom Strafverfahrensrecht als “Seismograph der Staatsverfassung”.

Ein Beispiel für eine erfolgreiche Verfassungsbeschwerde, die durch Rechtsanwalt Dr. Tobias Rudolph gegen eine Durchsuchung geführt wurde, finden Sie hier.

Voraussetzungen der Verfassungsbeschwerde

Tauglicher Beschwerdegegenstand sind ausschließlich Hoheitsakte der drei staatlichen Gewalten, das heißt zum Beispiel Behördenentscheide, Urteile und Beschlüsse sowie – in engen Grenzen – Rechtsvorschriften.

Die Verfassungsbeschwerde kann von jeder natürlichen oder juristischen Person erhoben werden, wenn sie durch die deutsche öffentliche Gewalt in ihren Grundrechten (Art. 1 bis Art. 19 GG) oder den sog. grundrechtsgleichen Rechten (Art. 20 Abs. 4, Art. 33, Art. 38, Art. 101, Art. 103, Art. 104 GG) verletzt wurde. Liegt kein spezifischer Bezug zu den Grundrechten vor, ist die Beschwerde erfolglos.

So kann beispielsweise eine Religionsgemeinschaft klagen, wenn ihr rituelle Schlachtmethoden untersagt werden (mögliche Verletzung der Religionsfreiheit nach Art. 4 GG), ein Frau, wenn sie nicht zur Bundeswehr zugelassen wird (mögliche Verletzung des Gleichheitssatzes nach Art. 3 Abs. 2 und der Berufsfreiheit nach Art. 12 GG) oder ein Eigentümer eines Grundstückes, wenn der Staat für ein Großbauprojekt eine Enteignung plant (mögliche Verletzung des Rechts auf Eigentum nach Art. 14 GG). Für das Strafverfahren erheblich sind die Justizgrundrechte, insbesondere die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG), der Verstoß gegen das Doppelbestrafungs- oder das Rückwirkungsverbot (Art. 103 Abs. 2 und 3 GG) oder den Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen (Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG i.V.m. Art. 104 GG, Art. 6 Abs. 1, Art. 5 Abs. 3 EMRK).

Der Beschwerdeführer muss vom gerügten Hoheitsakt selbst (d.h. nicht stellvertretend für einen anderen), gegenwärtig (d.h. bereits, noch oder kurz bevorstehend) und unmittelbar (ohne weitere Zwischenakte) in seinen Grundrechten betroffen sein.

Aufgrund der Ausgestaltung der Verfassungsbeschwerde als außerordentlicher Rechtsbehelf ist normalerweise kein direkter „Gang nach Karlsruhe“ möglich. Die Verfassungsbeschwerde ist daher grundsätzlich erst dann zulässig, wenn zuvor der fachgerichtliche Rechtsweg vollständig durchschritten wurde (sog. Rechtswegerschöpfung). Hinzu kommt, dass auch sonst alle zur Verfügung stehenden Möglichkeiten ergriffen worden sein müssen, um eine Korrektur der gerügten Verfassungsverletzung zu erwirken (sog. Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde). Das bedeutet konkret, dass der Beschwerdeführer zunächst alle fachgerichtlichen Rechtsbehelfe (z.B. Berufung, Revision, sofortige Beschwerde, Rechtsbeschwerde, Nichtzulassungsbeschwerde etc.) erfolglos eingelegt haben muss.

Die Frist für die Verfassungsbeschwerde ist sehr knapp bemessen. Gegen Entscheidungen der Gerichte und Behörden ist die Verfassungsbeschwerde nur binnen eines Monats zulässig. Innerhalb dieser Frist muss auch die vollständige Begründung einschließlich aller erforderlichen Unterlagen dem Gericht vorgelegt werden.

Zwar besteht kein Anwaltszwang für die Einlegung der Beschwerde; im Falle einer mündlichen Verhandlung muss sich der Beschwerdeführer allerdings vertreten lassen. Das Verfahren ist kostenfrei. Die Anwaltskosten trägt in der Regel der Beschwerdeführer. Bei missbräuchlicher Anrufung des Gerichtes kann eine Missbrauchsgebühr auferlegt werden, von der das Gericht wegen des erhöhten Arbeitsanfalls zunehmend Gebrauch macht.

Verfassungsbeschwerde in Bayern

In Bayern gibt es bei Verstößen gegen die Bayerische Verfassung auch die Möglichkeit, eine Verfassungsbeschwerde bzw. eine Popularklage zum Bayerischen Verfassungsgerichtshof zu erheben.

Die oft übersehene Möglichkeit bietet zusätzliche Chancen.

Verfassungsbeschwerde

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