Absprachen in Strafverfahren

In Strafverfahren erleben es Rechtsanwälte immer wieder, dass durch Staatsanwälte und Richter ein erheblicher Druck auf die Angeklagten ausgeübt wird, ein „Geständnis“ abzugeben.

Steht ein Angeklagter vor der Wahl, für die Wahrheit zu kämpfen und dafür eventuell einen hohen Preis zu bezahlen, entscheidet er sich häufig für den „bequemeren Weg“: Er gibt ein „taktisches Geständnis“ ab.

Dieses Geständnis entspricht dann zwar nicht der Wahrheit – aber genau dem, was der Richter in diesem Moment von ihm hören will.

Ein bekanntes Beispiel, wie solche Absprachen ablaufen, lag dem Strafverfahren gegen den Strafverteidiger Stefan Lucas vor dem Landgericht Augsburg zugrunde. Hier war es zur Eskalation zwischen Verteidigung und Gericht gekommen, nachdem ein Deal gescheitert war.

Ein aktuelles Beispiel für einen unzulässigen Deal ist in einem Berufungsschriftsatz RA Dr. Tobias Rudolph dokumentiert. Die Vorgehensweise der Staatsanwaltschaft wurde vom Strafrechtsausschuss des Deutschen Anwaltvereins dokumentiert und in einer Stellungnahme dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt. Das dokumentierte Strafverfahren endete inzwischen mit einer Bewährungsstrafe – obwohl dem Angeklagten in erster Instanz 3 Jahre Haft angedroht worden waren.

In dem Verfahren von Rechtsanwalt Dr. Rudolph stellte sich auch die Problematik unzulässiger Sperrberufungen durch Staatsanwälte – eine typische Reaktion auf gescheiterte Deals.

Im März 2013 entschied das Bundesverfassungsgericht erstmals über die Zulässigkeit und die Grenzen von Absprachen im Strafverfahren.

Die schon seit Ende der 1970er Jahre bestehende, inoffizielle Praxis der Verständigung hatte im Jahr 2009 eine gesetzliche Regelung erfahren. Bis dahin waren die Grenzen zulässiger Verfahrensabsprachen nur durch Richterrecht – und damit am parlamentarischen Gesetzgeber vorbei –  entwickelt worden. Nichtsdestotrotz wurde das neue Gesetz, das einige bedeutende Änderungen in der Strafprozessordnung mit sich brachte, schon von Beginn an stark kritisiert.

Die Kritik gründete sich dabei jedoch nicht nur auf die entsprechende Gesetzesänderung, sondern richtete sich zentral gegen die Praxis der Absprache an sich, die, so die Meinung vieler Kritiker, zu einem „Handel mit der Gerechtigkeit“ führe. Der im Rahmen der Absprache geschlossene „Deal“ besteht im Regelfall nämlich gerade in einem Strafrabatt des Staates zugunsten des geständigen Angeklagten. Dem deutschen Straf- und Strafprozessrecht ist ein solcher Handel grundsätzlich fremd. Die Schuld des Einzelnen ist zur Grundlage jeder Strafe zu machen – nicht das Ergebnis eines Deals. Kernstück des deutschen Strafverfahrens ist daher die sogenannte „inquisitorische“ Hauptverhandlung, in deren Rahmen die materielle Wahrheit über den Tathergang zu ermitteln ist.

Bietet ein Gericht dem Angeklagten einen Anreiz, sich durch ein möglicherweise sogar falsches Geständnis, der angemessenen Strafe zu entziehen, so ist dem Missbrauch Tür und Tor geöffnet.

Besonders problematisch werden diese Absprachen unter anderem in Großverfahren, in denen der Tatvorwurf durch mühsame Aktenarbeit sauber begründet werden muss. Gerade in Wirtschaftsstrafsachen wird dem Angeklagten damit ein starkes Werkzeug in die Hand gegeben. Je mehr er mit einem umfassenden Geständnis zur Beschleunigung des Verfahrens – und letztlich auch Arbeitserleichterung auf Seiten der Staatsanwaltschaft und des Gerichts – beitragen kann, umso mehr „Entgegenkommen“ kann er bei seiner Verurteilung erwarten. Während es dem Gericht gesetzlich verboten ist, den konkreten Schuldspruch vorab zu vereinbaren, ist es doch erlaubt, sich hinsichtlich der maximal zu erwartenden Strafe festzulegen.

Der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts lagen die Verfassungsbeschwerden dreier Beschwerdeführer zugrunde, die sich, nachdem ihrer Verurteilung jeweils eine Verständigung vorangegangen war, aus verschiedenen Gründen in ihren Grundrechten verletzt sahen. Die Verfassungsbeschwerden hat das Bundesverfassungsgericht zum Anlass genommen, zur Rechtmäßigkeit der Verfahrensabsprachen grundsätzlich Stellung zu nehmen. Im Ergebnis bekräftigte das Gericht die Beschwerdeführer in ihrer Rechtsauffassung und verwies ihre Fälle zur erneuten Verhandlung an die Ausgangsgerichte zurück.

Zu einem grundsätzlichen Verbot von Absprachen konnte sich das Verfassungsgericht jedoch nicht durchringen.

Das Urteil des BVerfG ist nicht zuletzt auch deshalb bemerkenswert, weil es sich auf eine repräsentative Umfrage unter 350 Richtern, Staatsanwälten und Strafverteidiger stützt. Diese im Jahre 2011 durchgeführte Befragung brachte zutage, dass mehr als die Hälfte aller Richter ihre Absprachen „informell“, also an den gesetzlichen Vorgaben vorbei, durchführen. Die gesetzlichen Rahmenbedingungen – durch Kritiker als ein „Korsett“ beschrieben – werden durch Richter offenbar als unnötiger Formalismus empfunden. Darüber hinaus herrscht stellenweise aber auch ein gesetzlich nicht gewollter, vor allem aber unzulässiger Pragmatismus. Insgesamt, so das Ergebnis der Studie, liegt der daraus resultierende Strafrabatt zwischen 25% und 33%.

Das BVerfG geht in seiner Entscheidung letztlich einen Mittelweg. Es betont die Wichtigkeit der strafprozessualen Verfahrensgarantien und der strafrechtlichen Grundprinzipien – Schuldgrundsatz, Rechtsstaatsprinzip und Menschenwürde bedingen sich gegenseitig und sind jeweils auch verfassungsrechtlich verankert. Allein die regelwidrige Anwendung eines Gesetzes macht das Gesetz selbst noch nicht verfassungswidrig. Vielmehr sei die Verständigung im Strafprozess gerade deshalb nur in einem begrenzten Rahmen vom Gesetzgeber für zulässig erachtet worden und das Gesetz mit „spezifischen Schutzmechanismen versehen [worden], die bei der gebotenen präzisierenden Auslegung und Anwendung erwarten lassen, dass die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Ausgestaltung des Strafprozesses erfüllt werden.“ Die angesprochenen elementaren Grundsätze des rechtsstaatlichen Strafverfahrens können und sollen dadurch also gerade nicht angetastet werden. Vielmehr sei es Anliegen des Gesetzgebers gewesen, „eine abschließende Regelung“ zu dem jeher umstrittenen Thema der Absprache zu schaffen.

Das Gericht betont: „Außerhalb des gesetzlichen Regelungskonzepts erfolgende sogenannte informelle Absprachen sind unzulässig.“

Dem damit eigentlich zulässigen Modell des Gesetzgebers bescheinigt das Gericht ein Vollzugsdefizit. Die gesetzlich vorgesehenen Schutzmechanismen würden also grundsätzlich ausreichen, wenn die Verfahrensbeteiligten sich nur konsequent daran halten würden. Ihnen obliegt es primär, auf die Einhaltung der Vorgaben zu achten. Immer umfangreichere Verfahren, stetig kompliziertere Rechtsnormen sowie Kosten- und Erledigungsdruck auf Seite aller Verfahrensbeteiligter, um nur einige der Faktoren zu nennen, die oben angesprochenen Erledigungspragmatismus befördern, lassen aber bereits jetzt schon daran zweifeln, ob diese Selbstkontrolle Erfolg verspricht.

Noch ist der „Deal“ also erlaubt. Wie bisher kann und darf es aber nicht weitergehen. Ob und wie sich die Verfahrensbeteiligten die mahnenden Worte aus Karlsruhe zu Herzen nehmen werden, muss sich in der Praxis erst noch zeigen.

Ein Mandant des Nürnberger Verteidigers Dr. Tobias Rudolph war Rechtsanwalt N. Dieser Rechtsanwalt vertrat eine Mandantin in einem Zivilverfahren. Es gab erhebliche Gründe, die dafür sprachen, dass diese Mandantin im Rahmen einer Erbschaftssache Opfer eines Prozessbetruges und eines Meineides geworden war. Ein Zeuge hatte vor Gericht eine objektiv falsche Aussage gemacht, durch welche die Durchsetzung der Ansprüche aus der Erbschaft erschwert wurde.

Der Rechtsanwalt N erstattete daraufhin Strafanzeige gegen den Zeugen. Es kam zu einem Straf­verfahren, in welchem eine Staatsanwältin S die Anklage vertrat. Die Staatsanwältin ver­stieß in der Hauptverhandlung gleich mehrfach gegen ihre Pflichten als An­klage­ver­treterin:

  • Sie wirkte nicht darauf hin, dass die Verdachtsmomente gegen den Zeugen, der eine falsche Aussage gemacht hatte, in öffentlicher Hauptverhandlung verhandelt wurden.
  • Sie legte vorhandene Beweise den Schöffen nicht vor. Dadurch war es den Laien­richtern am Schöffengericht nicht möglich, sich ein zutreffendes Bild von dem ta­tsächlichen Anklagevorwurf zu machen.
  • Sie führte während des laufendes Verfahrens geheime Absprachen mit dem Gericht, obwohl dies einem Sitzungsvertreter der Staatsanwalt ausdrücklich untersagt ist (vgl. Nr. 123 RiStBV)
  • Sie verzichtete faktisch auf ein Plädoyer
  • Sie widersprach nicht, als offenkundig wurde, dass das Gericht einen von zwei Tat­vorwürfen (Betrug und Meineid) ohne Begründung und ohne gesetzliche Grund­lage unter den Tisch fallen ließ

Rechtsanwalt N, der dieser Szene als Zuschauer beigewohnt hatte, wandte sich danach mit einem Brief an die Staatsanwältin und versuchte, sie dazu zu bewegen, gegen den Freispruch das Zeugen Berufung einzulegen. Nach seiner Auffassung handelte es sich dabei um ein krasses Fehlurteil. Nach seinen Beobachtungen drängte sich der Verdacht auf, dass hier nicht Recht gesprochen werden sollte, sondern dass das Gericht und die Staatsanwaltschaft den Zeugen aus nicht rechtsstaatlichen Gründen schonen wollten.

Seine Verwunderung über den Vorgang brachte er mit folgender Formulierung zum Aus­druck:

„Mit Ihnen als Staatsanwältin hat vermutlich keine Diktatur ein Problem.“

Rechtsanwalt N hat sich bei der Staatsanwältin für diese misslungene Formulierung entschuldigt. Er hatte es versäumt, die Formulierung – Ausdruck seiner Empörung unmittelbar nach der von ihm beobachteten Hauptverhandlung – in einer späteren Schrift­satz­fassung zu löschen. Spontan hatte er den Eindruck gewonnen, die Staatsanwältin habe sich in ihrem Verhalten nicht vom Recht leiten lassen.

Gleichwohl wurde gegen Rechtsanwalt N ein Strafverfahren wegen Beleidigung (§ 185 StGB) eingeleitet.

Rechtsanwalt Dr. Tobias Rudolph vertrat Rechtsanwalt N in diesem Strafverfahren. Ziel der Verteidigung war es, nachzuweisen, dass die Äußerungen von der Meinungsfreiheit (Art. 5 GG, § 193 StGB) gedeckt sind.

Das Verfahren betraf eine rechtliche Grundsatzfrage: Wie weit reicht die Meinungsfreiheit in einer Auseinandersetzung vor Gericht? Wie sehr fallen die Pflichtverletzungen der Staatsanwältin bei der Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrechten ins Gewicht?

Nach umfangreichen Beweisanträgen, die die Hintergründe des Geschehens beleuchten sollten, wurde der Strafantrag durch die Staatsanwältin kurz vor Beginn des Prozesses zurück genommen.

Einige der Schriftsätze, die durch RA Dr. Rudolph als Verteidiger angefertigt worden waren, können Sie hier bzw. hier in anonymisierter Form nachlesen.

Keine Strafbarkeit von Kassenärzten wegen Korruption

Macht sich ein niedergelassener Kassenarzt strafbar, der  von einem Pharmahersteller Geld oder andere Vorteile  als Gegenleistung für die Verordnung von Medikamenten erhält? Macht sich korrespondierend hierzu der Mitarbeiter des jeweiligen Pharmaunternehmens strafbar, der diese Vorteile gewährt?

Über die kontrovers diskutierte Grundsatzfrage, ob die Annahme von Geschenken durch Kassenärzte und Mitarbeiter von Pharmaunternehmen strafbar ist, hatte der Große Senat für Strafsachen zu entscheiden.

In seinem am 22. Juni 2012 veröffentlichten Beschluss vom 29. März 2012 (Az. GSSt 2/11) verneinte der Bundesgerichtshof diese Frage.

In dem zugrunde liegenden Fall ging es um eine Pharmareferentin, die Kassenärzten Schecks über insgesamt 18.000 € als Prämie für die Verordnung von Arzneimitteln ihres Unternehmens ausstellte. Der BGH entschied, dass weder die Pharmareferentin, noch die betreffenden Ärzte durch dieses Vorgehen einen Straftatbestand verwirklicht haben.

Der Große Senat kommt zu dem Ergebnis, dass niedergelassene Vertragsärzte keine Amtsträger sind. Sie sind auch keine Beauftragte der Krankenkassen,  wenn sie ihren Patienten Medikamente verschreiben. Damit scheidet eine Strafbarkeit der Ärzte sowohl  wegen Bestechlichkeit  (§ 332 StGB) als auch wegen Bestechlichkeit im geschäftlichen Verkehr (§ 299 I StGB) aus. Entsprechend sind auf der aktiven Seite auch Mitarbeiter von Pharmaunternehmen, die Ärzten Vorteile zuwenden, nicht wegen Bestechung (§ 334 StGB) oder Bestechung im geschäftlichen Verkehr (§ 299 Abs. 2 StGB) strafbar.

Kassenärzte keine Amtsträger

Zwar zählen die gesetzlichen Krankenkassen zu den in dieser Vorschrift genannten Einrichtungen. Sie  sind sonstige Stellen der öffentlichen Verwaltung im Sinne des § 11 Abs. 1 Nr. 2 c) StGB.

Der BGH stellt in seinem Beschluss jedoch fest, dass der freiberuflich tätige Kassenarzt weder Angestellter noch Funktionsträger einer öffentlichen Behörde ist. Ein Arzt ist damit nicht dazu bestellt, Aufgaben der öffentlichen Verwaltung  wahrzunehmen.

Für die Beurteilung ob eine Wahrnehmung von Aufgaben der öffentlichen Verwaltung erfolgt, ist entscheidend, ob der Tätigkeit der betreffenden Person im Verhältnis zum Bürger der Charakter eines hoheitlichen Eingriffs zukommt. Dies ist  nach Ansicht der Richter hier nicht der Fall.

Der Schwerpunkt wird also nicht auf das Verhältnis Allgemeinheit-Arzt gelegt. Vielmehr betonen die Richter die Wichtigkeit des individuellen Verhältnisses zwischen Vertragsarzt und Patient. Hierbei steht das  persönliche Vertrauen der Beteiligten im Vordergrund.

Die Tatsache, dass Ärzte auch öffentliche Aufgaben zu erfüllen haben, tritt dahinter zurück.

Der Arzt wird durch seine Patienten ausgewählt. Im Arzt-Patienten-Verhältnis steht die persönliche Beziehung im Vordergrund. Die öffentliche Daseinsvorsorge (Bsp. Müllabfuhr, Friedhöfe, Gesundheitsämter usw.) hat demgegenüber einen ganz anderen Charakter. Versicherte empfinden ihren Arzt auch im Zweifel als Vertrauensperson – und nicht als Hoheitsträger.

Kein Beauftragter der gesetzlichen Krankenkassen i.S.v. § 299 StGB

Der BGH stellte in seinem Beschluss auch klar, dass der Kassenarzt kein Beauftragter der gesetzlichen Krankenkassen i.S.v. § 299 StGB ist.

Gemäß § 72 Abs. 1 Satz 1 SGB V wirken die Kassenärzte mit den gesetzlichen Krankenkassen zur Sicherstellung der kassenärztlichen Versorgung zusammen. Der Bundesgerichtshof sieht hierin eine grundsätzliche gesetzgeberische Gleichordnung. Es besteht also insbesondere kein Über-Unter-Ordnungsverhältnis. Der Begriff des „Beauftragten“ setzt demgegenüber gerade ein solches Stufenverhältnis voraus.

Es kommt hinzu, dass die Krankenkasse den vom Versicherten frei gewählten Arzt akzeptieren muss. Es gibt kein Weisungsrecht der Kasse gegenüber den Patienten bei der Arztwahl.

Bekämpfung der Korruption im Gesundheitswegen ist Hausaufgabe des Parlaments

Der BGH hatte in vorliegender Angelegenheit lediglich darüber zu entscheiden, ob durch das Annehmen von Vorteilen durch den Arzt bzw. durch das Anbieten solcher  Vorteile durch Pharmaunternehmen ein Straftatbestand verwirklicht wird.

Es wird von den Richtern in Karlsruhe durchaus angedeutet, dass Korruption im Gesundheitswesen möglicherweise gleichwohl strafwürdig ist. Nur ist es eben Aufgabe des Gesetzgebers – und nicht der Gerichte – entsprechende Straftatbestände zu schaffen. Zumindest nach dem geltenden Recht sahen sich die Richter an einer Verurteilung gehindert.

Kein Freibrief für Ärzte

Kassenärzte und Pharmavertreter müssen nach dem Beschluss des BGH  zwar aktuell nicht mit strafrechtlicher Verfolgung rechnen. Anders als zuweilen in der Presse dargestellt, dürfen selbstständige Ärzte jetzt aber nicht auf einmal unbedacht Geschenke annehmen und Provisionen kassieren.

Sie unterliegen weiter dem ärztlichen Berufsrecht. Dieses enthält Regeln für die Zusammenarbeit mit Dritten, wie beispielsweise Pharmaunternehmen. So sieht die Berufsordnung für Ärzte vor, dass es Ärzten nicht gestattet ist, Geschenke oder andere Vorteile für sich zu fordern oder anzunehmen, wenn hierdurch der Eindruck erweckt wird, die Unabhängigkeit der ärztlichen Entscheidung werde beeinflusst. Die Annahme von geldwerten Vorteilen in angemessener Höhe ist nur dann erlaubt, wenn diese ausschließlich für berufsbedingte Fortbildungsveranstaltungen verwendet werden.

Verstößt ein Arzt gegen die Berufsordnung, drohen berufsrechtliche Konsequenzen.

Am Dienstag, den 19. Juni 2012, kam es vor dem Landgericht Münster zu einem Eklat. Vor laufenden Kameras und unter den Augen der Öffentlichkeit wurde ein Rechtsanwalt in Handschellen abgeführt. Der Anwalt war als Verteidiger in einer umfangreichen Steuerstrafsache tätig. Dieses Verfahren hatte bereits einige Hauptverhandlungstage in Anspruch genommen. Kurz nach Beginn des laufenden Prozesstages erklärte Staatsanwalt X einem der Verteidiger die „vorläufige Festnahme“.

Hintergrund für die Festnahme war folgender: Der Rechtsanwalt wird durch die Staatsanwaltschaft Münster verdächtigt, einem der Zeugen aus dem Steuerstrafverfahren den Betrag von 50.000 € dafür geboten zu haben, dass dieser vor Gericht eine falsche Aussage machen soll.

In jedem Berufsstand gibt es schwarze Schafe. Würde sich der Verdacht gegen den Rechtsanwalt bestätigen, so wäre ein solches Verhalten nicht nur ein schwerer Verstoß gegen Berufspflichten. Der Rechtsanwalt hätte sich auch strafbar gemacht.

Bis dahin gilt aber auch für den verhafteten Rechtsanwalt die Unschuldsvermutung. Ob sich der Verdacht bestätigen wird ist noch nicht abzusehen.

Es besteht Anlass, sich über die Rechte und Pflichten eines Verteidigers sowie über die Art und Weise des Vorgehens der Staatsanwälte Gedanken zu machen.

Rechte und Pflichten des Strafverteidigers

Strafverteidiger sind bei der Ausübung ihres Berufes an die Gesetze gebunden. Ihre Aufgabe ist es, die Hypothesen einer Anklage gegen einen Beschuldigten konsequent infrage zu stellen. Wenn sie dabei bemerken, dass den Ermittlern belastende Beweismittel nicht bekannt sind, so gehört es zu den prozessualen Rechten, belastende Beweismittel zu verschweigen. Es ist also nicht die Aufgabe eines Verteidigers, an der vollständigen und lückenlosen Aufklärung eines Sachverhalts mitzuwirken. Es ist aber die Aufgabe eines Verteidigers, im Rahmen des gesetzlich Zulässigen sämtliche Spielräume auszuschöpfen, die geeignet sind, Zweifel an der Anklage zu wecken. Nach einem berühmten Wort des Strafverteidigers Hans Dahs lässt sich Stellung eines Anwalts im Strafprozess mit folgender Formel umschreiben: „Alles, was der Verteidiger sagt, muss wahr sein, aber er darf nicht alles sagen, was wahr ist.”

Vor diesem Hintergrund sind die Rechte eines Verteidigers, aktiv auf das Beweisergebnis einer Hauptverhandlung einzuwirken, beschränkt. Gleichwohl ist heutzutage weitgehend anerkannt, dass es keine unzulässige Strafvereitelung durch einen Rechtsanwalt darstellt, wenn dieser beispielsweise Kontakt mit einem Zeugen aufnimmt, um sich ein eigenes Bild zu machen. Dies hat der BGH bereits in seiner Entscheidung aus dem Jahr 1957 (BGHSt 10,393) klargestellt.  Darin heißt es „Wer einen anderen veranlasst, von einem ihm zustehenden Recht Gebrauch zu machen, handelt nur rechtswidrig, wenn er dabei unerlaubte Mittel anwendet. Der Zeuge soll frei darüber entscheiden, ob er von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen will oder nicht. Das bedeutet aber nicht, dass andere Personen ihn in dieser Beziehung nicht beeinflussen dürfen“. Der BGH sieht nur dann eine unzulässige Beeinträchtigung des Zeugen, wenn dieser durch Täuschung, Drohung oder Bestechung beeinflusst wird.

In manchen Fällen ist die Kontaktaufnahme eines Anwalts mit Zeugen sogar geboten, wenn dies zur pflichtgemäßen Sachaufklärung, Beratung oder Vertretung notwendig ist.

Es ist als zulässiges Verteidigerverhalten anerkannt, dass einem Zeugen, der ein Zeugnisverweigerungsrecht hat (beispielsweise die Ehefrau eines Angeklagten) den Rat gegeben wird, von diesem Recht zu schweigen, Gebrauch zu machen.

Nicht jedes Anbieten von Geld ist dabei eine unzulässige „Bestechung“. Es ist durchaus zulässig, wenn dem Opfer – das ja auch Zeuge vor Gericht ist – Geld angeboten wird, beispielsweise als Schadensersatz oder Schmerzensgeld. Ein solches Verteidigungsverhalten ist vom Gesetz sogar gewollt und wird dem Angeklagten in vielen Fällen auch nutzen. Denn gemäß § 46a StGB stellt es einen erheblichen Strafmilderungsgrund dar, wenn sich beispielsweise der Täter und das Opfer einer Körperverletzung bereits über zivilrechtliche Ausgleichsansprüche geeinigt haben.

Es gibt also eine Grenze zwischen einer zulässigen passiven Verteidigung und einer unzulässigen aktiven Einwirkung auf das Beweisergebnis. Ein Verteidiger ist niemals berechtigt, aktiv auf ein falsches Beweisergebnis hinzuwirken. Es ist ihm insbesondere verboten, Zeugen zu Falschaussagen anzustiften.

Sollte ein Verteidiger mit einem Zeugen Kontakt aufnehmen?

Erfahrene Strafverteidiger sind bei der Kontaktaufnahme mit potentiellen Zeugen äußerst zurückhaltend und vorsichtig. Denn sehr viele Anwälte haben schon die Erfahrung gemacht, dass bei derartigen Gesprächen häufig Missverständnisse auftreten. Ein renommierter Kollege geriet beispielsweise einmal in den (unbegründeten) Verdacht der Amtsanmaßung. Eine Zeugin, mit der sich der Anwalt unterhalten hat, hatte behauptet, dieser habe sich ihr gegenüber als Staatsanwalt ausgegeben. Später stellte sich heraus, dass die Zeugin nicht in der Lage war (oder nicht in in der Lage sein wollte), die grundsätzlich unterschiedlichen Funktionen eines Rechtsanwalts und eines Staatsanwalts auseinanderzuhalten.

Manchmal sind es auch andere Motive, die Zeugen verleiten, über angebliches Verteidigerverhalten gegenüber der Polizei unzutreffende Angaben zu machen. Dies können eigene Interessen am Ausgang des Verfahrens sein oder einfach nur ein besonderes Geltungsbedürfnis des Zeugen.

Das Risiko für einen Verteidiger, selbst in den unbegründeten Verdacht einer Straftat zu geraten, ist groß.

Missverständnisse sind häufig. Sie haben ihre Wurzeln in Fehlvorstellungen der Bevölkerung über die Rechte und Pflichten eines Strafverteidigers. Das gängige Klischee ist häufig von amerikanischen Filmen geprägt. So kann eine zulässige Verteidigungsmaßnahme schnell in ein falsches Licht gerückt werden. Wendet sich ein Verteidiger beispielsweise an einen Zeugen, um diesen – zulässigerweise – ein Schmerzensgeld anzubieten, kann dies schnell als unzulässiger Versuch der Beeinflussung fehlinterpretiert werden.

In Handbüchern zur Strafverteidigung wird für die Kontaktaufnahme mit Zeugen daher in der Regel empfohlen, dies stets in einem formellen schriftlichen Rahmen zu tun. Man sollte einem Zeugen daher, bevor man ihn anruft oder aufsucht, im Zweifel einen Brief schreiben, um das Anliegen unmissverständlich zu schildern. In diesem Schreiben sollte klargestellt werden, dass kein Zeuge verpflichtet ist, mit dem Anwalt zu sprechen. Es sollte außerdem darauf hingewiesen werden, dass alle Gespräche zwischen einem Anwalt und einem Zeugen auch gerichtskundig zu machen sind. Im Zweifel hat ein Zeuge im Rahmen der Aussage vor Gericht von sich aus den Inhalt vorangegangener Gespräche schildern, sofern sie für das Verfahren relevant sind.

Schon daher empfiehlt es sich aus Anwaltssicht, unbeteiligte Dritte bei einem Gespräch mit einem Zeugen hinzuzuziehen. Der Inhalt eines Gesprächs sollte so exakt wie möglich protokolliert werden. Idealerweise sollte sich ein Zeuge, wenn er mit einem der Verteidiger in einem Strafverfahren Kontakt hat, seinerseits durch einen eigenen Anwalt begleiten lassen.

Strafverteidiger und Staatsanwälte als Organe der Rechtspflege

In anderen Rechtsordnungen wird dieses Thema nicht überall gleich behandelt. So gilt es beispielsweise in Frankreich als standeswidrig, wenn ein Anwalt eigene Ermittlungen vornimmt. In den USA ist einem Anwalt die Kontaktaufnahme mit Zeugen in bestimmten prozessualen Situationen untersagt.

Die Tatsache, dass das deutsche Strafprozessrecht weitergehende Ermittlungen des Verteidigers zulässt, hängt mit einigen Besonderheiten der deutschen Rechtsordnung zusammen. Der Rechtsanwalt ist „unabhängiges Organ der Rechtspflege“ (§ 1 BRAO). Anders als im amerikanischen Strafprozess, bei dem sich Ankläger und Verteidiger als Gegner gegenüberstehen, ist die deutsche Prozessordnung von dem Gedanken geprägt, dass sowohl das Gericht als auch die Staatsanwaltschaft verpflichtet sind, den wahren Sachverhalt umfassend und objektiv zu ermitteln. Die Anklagebehörde darf daher nicht einseitig als Interessenvertreter auftreten. Vielmehr ist sie verpflichtet, auch alle entlastenden Beweismittel von sich aus dem Gericht vorzulegen und bei ihren Handlungen zu berücksichtigen. Die deutsche Staatsanwaltschaft bezeichnet sich selbst daher gerne auch als die „objektivste Behörde der Welt“.

Vor diesem Hintergrund ist die erste Reaktion der Anwaltschaft auf den Vorwurf, der gegenüber dem Kollegen aus Münster erhoben wird, ambivalent:

Einerseits sieht man den großen Schaden für das Ansehen des Berufsstandes, sollte sich der gegen den Kollegen erhobene Verdacht als wahr herausstellen.

Andererseits dürfte wohl jeder erfahrene Strafverteidiger in seinem Leben schon einmal die Erfahrung gemacht haben, wie schnell man in diesem Beruf in den – unbegründeten! – Verdacht geraten kann, die Grenzen des zulässigen Verteidigerhandelns überschritten zu haben. Dies liegt daran, dass es gerade die Aufgabe der Strafverteidigung ist, sich in Grenzgebieten zu bewegen. Oft befinden sich die Beteiligten in einer emotionalen Ausnahmesituation. Fast immer prallen unterschiedliche Welten und Weltanschauungen zusammen.

Die Grenzen zwischen zulässigen und unzulässigen Verteidigerverhalten sind dementsprechend formalistisch. Jede Verteidigung, die diesen Namen verdient, bewegt sich in einem Minenfeld.

Inzwischen gibt es sogar spezielle Rechtsschutzversicherungen für Strafverteidiger, die in den Verdacht geraten, die Grenzen des Zulässigen überschritten zu haben.

Die Methoden der Staatsanwaltschaft Münster

Unabhängig davon, ob sich der Vorwurf gegenüber dem verhafteten Kollegen bestätigt oder nicht – in einem Punkt sind sich die Anwälte in den ersten Reaktionen einig:

Das Verhalten der Staatsanwaltschaft Münster ist durch nichts zu rechtfertigen. Es ist ihres Amtes unwürdig und in höchstem Maße diffamierend.

Der Vorgang wird das Verhältnis zwischen Verteidigern und Justiz beschädigen.

Es ist zum einen schon äußerst zweifelhaft, wie bei dem gegen den Kollegen erhobenen Tatvorwurf ein Haftbefehl begründet werden sollte. Denn ein solcher würde einen Haftgrund voraus setzen, d.h. hier entweder Flucht- oder Verdunkelungsgefahr. Beides erscheint äußerst fragwürdig. Wie soll beispielsweise eine Verdunkelungshandlung bzgl. des Vorwurfes der „Bestechung“ aussehen? Immerhin hat der belastende Zeuge seine Aussage bereits gemacht.

Zudem ist es äußerst fraglich, ob die Voraussetzungen für eine „vorläufige Festnahme nach § 127 StPO“ (Original-Ton Staatsanwalt) vorliegen.

Unabhängig davon lässt sich kaum ein redlicher Grund vorstellen, weshalb eine Festnahme vor laufenden Fernsehkameras und in öffentlicher Verhandlung erforderlich gewesen sein soll. Presseberichten zufolge sollen Medienvertreter im Vorfeld informiert gewesen sein. Der Fernsehsender WDR soll den Tipp bekommen haben, den Prozess zu besuchen, weil sich „dort etwas ereignen würde“.

Ein Vorgang, wie er sich vor dem Landgericht Münster abgespielt hat, dürfte in der deutschen Rechtsgeschichte einmalig sein – und dies hoffentlich auch bleiben.

Die öffentliche Festnahme in Handschellen kann einzig das Ziel haben, dem Beschuldigten seinen Stolz und seine Würde zu nehmen. Eine solche öffentliche Zurschaustellung eines Verdächtigen ist weder mit dem europäischen Verständnis der Würde eines Menschen noch den Beschuldigtenrechten vereinbar. Sie verträgt sich auch nicht mit der rechtlichen Stellung der Staatsanwaltschaft, die – wie auch Rechtsanwälte – „Organe der Rechtspflege“ sind.

Den zuständigen Oberstaatsanwalt dürfte angesichts der Festnahme vor laufender Fernsehkamera kaum interessiert haben, dass sein Verhalten gemäß den internen Richtlinien für Staatsanwälte ausdrücklich verboten ist. In den Richtlinien für das Straf- und Bußgeldverfahren (RiStBV) heißt es:

Nr. 4a: Keine unnötige Bloßstellung des Beschuldigten

„Der Staatsanwalt vermeidet alles, was zu einer nicht durch den Zweck des Ermittlungsverfahrens bedingten Bloßstellung des Beschuldigten führen kann.“

Nr. 23: Zusammenarbeit mit Presse und Rundfunk

(1) Bei der Unterrichtung der Öffentlichkeit ist mit Presse, Hörfunk und Fernsehen unter Berücksichtigung ihrer besonderen Aufgaben und ihrer Bedeutung für die öffentliche Meinungsbildung zusammenzuarbeiten. Diese Unterrichtung darf weder den Untersuchungszweck gefährden noch dem Ergebnis der Hauptverhandlung vorgreifen; der Anspruch des Beschuldigten auf ein faires Verfahren darf nicht beeinträchtigt werden. Auch ist im Einzelfall zu prüfen, ob das Interesse der Öffentlichkeit an einer vollständigen Berichterstattung gegenüber den Persönlichkeitsrechten des Beschuldigten oder anderer Beteiligter, insbesondere auch des Verletzten, überwiegt. Eine unnötige Bloßstellung dieser Person ist zu vermeiden. Dem allgemeinen Informationsinteresse der Öffentlichkeit wird in der Regel ohne Namensnennung entsprochen werden können (…).
(2) Über die Anklageerhebung und Einzelheiten der Anklage darf die Öffentlichkeit grundsätzlich erst unterrichtet werden, nachdem die Anklageschrift dem Beschuldigten zugestellt oder sonst bekanntgemacht worden ist.

Die Verhaftung eines Verteidigers in Anwesenheit zahlreicher Medienvertreter ist eine solche Bloßstellung. Es ist zu erwarten, dass der Vorgang nicht nur dienstrechtliche Konsequenzen für die verantwortlichen Staatsanwälte hat. Sollte sich herausstellen, das der festgenommene Anwalt unschuldig ist, so dürfte dieser auch erhebliche Schadensersatzansprüche gegenüber dem Staat haben – auf Kosten der Steuerzahler.

Fazit

Das durch die Staatsanwaltschaft Münster gesetzte Signal ist fatal: Durch die öffentliche Diffamierung eines Rechtsanwalts wird jegliche professionelle Distanz aufgegeben.

Bestrebungen, auch hart umstrittene Strafprozesse sachlich und mit menschlichen Umgangsformen zu gestalten, werden durch derartige Aktionen mit den Füßen getreten.

Strafverteidiger haben die Aufgabe, zu verhindern, dass staatliche Organe die ihnen verliehenen Ämter missbrauchen. Auch Staatsanwälte sind an die Gesetze gebunden. Wenn in fragwürdiger Weise gegen Verteiger selbst Strafverfahren geführt werden, gerät das Machtgefüge unserer Gesellschaft ins Wanken.

Seit dem 1. Juni 2011 ist Rechtsanwalt Dr. Tobias Rudolph für die ARD/ZDF-Medienakademie gemeinnützige GmbH als externe Kontaktperson für strafrechtliche Sachverhalte tätig. Dr. Rudolph steht als Vertrauensanwalt für Mitarbeiter des Unternehmens sowie für externe Ansprechpartner zur Verfügung. Durch die Bestellung eines externen Beauftragten zur Korruptionsbekämpfung (hierfür hat sich auch der Begriff „Ombudsmann“ eingebürgert) setzt die ARD/ZDF-Medienakademie ein klares Signal für Transparenz und gegen Korruption.

Das Instrument des so genannten Ombudsmanns zur Korruptionsbekämpfung hat sich in den letzten Jahren in der deutschen Unternehmenskultur als fester Bestandteil so genannter Compliance-Programme bewährt und etabliert. Wer den Verdacht hegt, dass ein Kollege, Vorgesetzter, Geschäftspartner oder Mitbewerber beispielsweise bei der Vergabe von Aufträgen mit unlauteren Mitteln arbeitet, hat die Möglichkeit, sich an den unabhängigen Vertrauensanwalt zu wenden.

Häufig bestehen Hemmschwellen für einen Mitarbeiter, auf Missstände hinzuweisen. Wendet er sich an betriebsinterne Stellen, besteht die Sorge, als „Verräter“ oder „Spielverderber“ dazustehen. In vielen Fällen ist sich ein Hinweisgeber auch nicht sicher, ob die Informationen, über die er verfügt, wirklich stichhaltig sind.

Eine moderne Unternehmenskultur zielt darauf ab, ein Klima des Wegschauens und des Misstrauens von vornherein zu vermeiden. Ziel ist es, Mitarbeitern das Vertrauen zu geben, dass Dinge, die nicht korrekt laufen, zur Sprache gebracht werden können, ohne dass Vorverurteilungen gefördert werden. Die Einrichtung eines externen Vertrauensanwalts ist hier der richtige Weg. Ein Mitarbeiter kann sich an den Rechtsanwalt wenden. Dieser prüft als unabhängiges Organ der Rechtspflege die mitgeteilten Fakten und unterliegt als Strafverteidiger selbstverständlich der Verschwiegenheitspflicht.

Ein Hinweisgeber kann sich daher ganz sicher sein, dass die Informationen nicht in falsche Hände gelangen und nicht missbraucht werden. Auch der eigene Name kann geschützt werden. Auf diese Weise werden nicht nur die datenschutzrechtlichen Vorgaben des Gesetzgebers eingehalten. Vielmehr kann der Rechtsanwalt als Vertrauensperson mit dem Hinweisgeber die Probleme neutral und vertraulich erörtern. Wenn sich herausstellt, dass tatsächlich der Verdacht einer Straftat durch konkrete Fakten begründet werden kann, so kann der Ombudsmann diese Informationen an das Unternehmen weiterleiten und den Hinweisgeber schützen.

Durch das System bekennt sich das Unternehmen dazu, rechtswidriges Verhalten nicht zu dulden. Mitarbeiter und Geschäftspartner können auf faire Bedingungen vertrauen.

Mehr über die Idee des externen Vertrauensanwalts zur Korruptionsprävention finden Sie auf der Internetseite www.ombudsmann-strafrecht.de.

Rechtsanwalt Dr. Tobias Rudolph berät als Vertrauensanwalt („Ombudsmann“) Unternehmen bei der Vorbeugung und Aufklärung von Straftaten im Betrieb. Zu den Unternehmen, die von Dr. Rudolph vertreten werden, gehört u.a. die N-Ergie Aktiengesellschaft und die ARD/ZDF-Medienakademie.

Während das Thema „Compliance“ in Großunternehmen inzwischen sehr präsent ist, herrscht in kleineren und mittleren Betrieben häufig eine Unsicherheit über Strafbarkeitsrisiken des Arbeitgebers. Die Kanzlei Rudolph Rechtsanwälte berät Unternehmer im Arbeitsstrafrecht, aber auch bei typischen Strafrechtfallen im IT-Bereich oder im Steuerrecht.

Das berechtigte Interesse von Arbeitgebern, Straftaten im Betrieb aufzuklären, gerät manchmal in einen Konflikt mit den Rechten der Arbeitnehmer. Diese haben auch während der Arbeitszeit grundsätzlich einen Anspruch auf Wahrung ihrer Privatsphäre.

Ein Artikel von Rechtsanwalt Dr. Tobias Rudolph zu den strafrechtlichen Risiken bei der Arbeitnehmerüberwachung ist im April 2012 im Magazin der IHK Mittelfranken „WiM – Wirtschaft in Mittelfranken“ erschienen und ist hier abrufbar.

Es ist bekannt, dass eine CD mit Namen von „Steuer­sündern“ von der Bundesregierung bzw. verschiedenen Landesregierungen an­ge­kauft werden soll. Dabei wird vermutet, dass die Daten unter Verstoß gegen das Bank­geheimnis oder den Datenschutz erlangt wurden. Es ist unter Fachleuten um­stritten, ob solcher­maßen erlangte Daten für Zwecke der Strafverfolgung verwertet werden dürfen. Die bisherige Praxis der Steuerfahndungen bejaht dies. Es ist davon auszugehen, dass auch in Zukunft mit der Einleitung von Strafverfahren zu rechnen ist, wenn die Daten erst einmal bekannt sind.

Es gibt bereits Erfahrungen über den Umgang der Steuerbehörden mit brisanten Informationen über Liechtensteiner Bankkonten. Aufgrund der Daten auf der Liechtenstein-CD kam es zu einer Vielzahl von Strafverfahren in ganz Deutschland. Allerdings ist kein einziges höchst­richterliches Urteil bekannt geworden, mit welchem abschließend und ver­bindlich über die Verwertbarkeit der umstrittenen Daten entschieden wurde.

Niemand solte sich darauf verlassen, dass die Daten auf der aktuellen Schweizer CD aus rechtlichen Gründen nicht verwertet werden dürfen. Selbst wenn ein rechtliches Ver­wertungs­verbot bezüglich der Daten auf der CD bejaht würde, heißt dies noch nicht, dass die Behörden andere Informationen, z. B. durch eigene Ermittlungen, Durch­suchungen, Bankauskünfte usw. nicht verwerten dürfen.

Man kann davon ausgehen, dass eine Selbst­anzeige noch möglich ist, solange die auf der CD befindlichen Daten noch nicht im Einzelnen ausgewertet wurden. Informationen, in wie weit die bereits angekauften CD’s bislang tatsächlich schon ausgewertet wurden, sind nicht öffentlich bekannt.

Wird eine Selbstanzeige verspätet abgegeben, d.h. war die Tat bereits entdeckt, bleibt die Steuerhinterziehung strafrechtlich verfolgbar. Eine „fehlgeschlagene Selbstanzeige“ wird sich jedoch bei der Strafzumessung günstig auswirken. Bei höheren Hinterziehungsbeträgen kann selbst eine fehlgeschlagene Selbstanzeige unter Umständen sogar vor einer Gefängnisstrafe bewahren.

Im Wintersemester 2011/2012 stellt Dr. Tobias Rudolph an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Examensklausuren im Fach Strafrecht.

Einen Artikel zum Thema Woher kommen eigentlich die komischen Namen der Theorien zum Erlaubnistatbestandsirrtum? können Sie hier herunter laden. Es werden auch Tipps für die Behandlung des Erlaubnistatbestandsirrtums in einer Klausur gegeben.

Den Sachverhalt mit Lösungsskizze der ersten Klausur vom 13. Januar 2012 können Sie hier herunter laden.

Materiell-rechtliche Themen der ersten Klausur:

Raub in Mittäterschaft, Rücktritt vom Versuch, Abbruch eines rettenden Kausalverlaufs bei Abbruch eigener Rettungshandlungen, Abgrenzung von Verantwortungsbereichen bei vorsätzlichem Dazwischentreten eines Dritten / Regressverbot, gekreuzte Mordmerkmale.

Prozessuale Themen der ersten Klausur:

Beweisverwertung bei Eigeninitiative von Zeugen (3 StR 400/10 – Variation der „Hörfalle“). Inzwischen ist eine lesenswerte kritische Anmerkung zu dem Fall von Roxin in StV 2012, S. 129 ff., erschienen („Beschuldigtenangaben gegenüber Polizeiinformant in vernehmunsähnlicher Situation“).

Beweisverwertungsverbot bei Selbstgesprächen. Die Entscheidungsgründe des BGH zu der Selbstgespräch-Entscheidung (2 StR 509/10) vom 22.12.2011, die zum Zeitpunkt der Besprechung der Klausur noch nicht vorlagen, sind seit dem 27. Februar 2012 über den Bundesgerichtshof verfügbar.

Den Sachverhalt mit Lösungsskizze der zweiten Klausur vom 24. Februar 2012 können Sie hier herunter laden.

Materiell-rechtliche Themen der zweiten Klausur:

Betrug bei irrealen Tatsachenvorstellungen („Wunderheiler“); Abgrenzung eigenverantwortliche Selbstgefährdung / einvernehmliche Fremdgefährdung („Psycholyse – Berliner Drogenarzt“); Putativnotwehr, Strafbarkeit der Beteiligung bei Erlaubnistatbestandsirrtum („Hells-Angels-Fall“); Korruptions- und Bestechungsdelikte („Schulfotografie“).

Strafprozessuale Themen der zweiten Klausur:

Zeugnisverweigerungsrecht (§ 52 StPO) bei nichtehelicher Lebensgemeinschaft, Auskunftsverweigerungsrecht (§ 55 StPO) nach Freispruch bzw. Einstellung des Verfahrens durch Staatsanwaltschaft.

Dr. Tobias Rudolph vertrat einen Rechtsanwalt, der selbst ins Visier der Ermittler wegen des Verdachts der Steuerhinterziehung geraten war. Der Hintergrund des Verfahrens waren verschiedene Auffassungen zwischen dem Rechtsanwalt, der seinerseits einen Mandanten wegen des Verdachts der Steuerhinterziehung vertreten hatte, und einem Staatsanwalt.

In dem Verfahren gegen den Anwalt wurden dessen Wohn- und Kanzleiräume durchsucht. Gegen diesen Durchsuchungsbeschluss legte Dr. Tobias Rudolph Beschwerde ein.

Das Verfahren hatte grundsätzliche Bedeutung. Es betraf die Frage, ob bzw. wie ein Rechtsanwalt einen Mandanten, gegen den wegen des Verdachts der Steuerhinterziehung ermittelt wird, überhaupt noch steuerrechtlich vertreten darf.

Ein Anwalt, der befürchten muss, selbst ins Visier der Verfolger zu geraten, wird kaum noch engagiert für einen Beschuldigten eintreten können.

Ein Mandant hat nur dann eine Chance auf effektiven Rechtsschutz, wenn er sich darauf verlassen kann, dass er einen Rechtsanwalt findet, der seinen Standpunkt darstellt und zu Gehör bringt.

Es gehört nicht zu den Aufgaben eines Rechtsanwalts, die Angaben seines eigenen Mandanten wie ein Privatdetektiv, Staatsanwalt oder Richter in Frage zu stellen. Ein Rechtsanwalt, der keine konkreten Hinweise darauf hat, vom eigenen Mandanten belogen zu werden, darf nicht daran gehindert werden, also Organ der Rechtspflege den Standpunkt des Mandaten mit der gebotenen Professionalität zu vertreten.

Der Kollege hatte einen Mandanten vertreten, gegen den ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Bestechung und Steuerhinterziehung eingeleitet worden war. Da viele steuerrechtliche Fragen in dem komplizierten Fall umstritten waren, stellte der Rechtsanwalt einen Antrag beim Finanzgericht, um diese Fragen zu klären. Zu diesem Zeitpunkt war aber schon die Staatsanwaltschaft gegen den Mandanten tätig. Die Auffassungen darüber, was der Mandant tatsächlich getan hatte, gingen naturgemäß auseinander. Der Anwalt stellte gegenüber dem Finanzgericht den Sachverhalt so dar, wie er ihm vom Mandanten geschildert worden war und wie er sich nach Aktenlage ergab. Er wies gleichzeitig darauf hin, dass der Sachverhalt in entscheidenden Punkten strittig ist. Der Rechtsanwalt vertrat gegenüber dem Finanzgericht die Auffassung, dass die Steuerfahnder ihrer Pflicht zur sorgfältigen Sachverhaltsermittlung nicht nachgekommen sind.

Die Staatsanwaltschaft war der Auffassung, die Sachverhaltsdarstellung durch den Rechtsanwalt sei falsch. Es wurde ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren gegen den Anwalt selbst eingeleitet. Dahinter steckte der Gedanke, dass es schon dann eine strafbare Steuerhinterziehung – oder zumindest eine Beihilfe dazu – darstellt, wenn jemand in einem Prozess vor dem Finanzgericht bewusst falsche Tatsachen vorträgt.

Das Landgericht Nürnberg-Fürth hat die Auffassung der Ermittler nicht geteilt. Es hat klargestellt, dass die Durchsuchung bei dem Anwalt rechtswidrig war. Kurz darauf wurde dann auch das Ermittlungsverfahren gegen den Anwalt vollständig eingestellt.

Den Beschwerdeschriftsatz von Dr. Tobias Rudolph gegenüber dem Landgericht Nürnberg-Fürth in anonymisierter Form finden Sie hier.

Prozessbericht von Rechtsanwalt Dr. Tobias Rudolph,

Fachanwalt für Strafrecht und Fachanwalt für Steuerrecht aus Nürnberg

Die Zuschauer, die am 1. April 2011 ins Landgericht Augsburg gekommen waren, um der Urteilsverkündung in dem Strafverfahren gegen Rechts­anwalt Stephan Lucas beizuwohnen, wurden Zeugen eines ungewöhnlichen Verfahrens. Den meisten der Anwesenden – in der Mehrzahl Strafverteidiger, die aus Solidarität mit dem an­geklagten Kollegen angereist waren – hatte es trotz des erwarteten Freispruchs bei der Urteilsverkündung die Sprache verschlagen. Viele verließen den Gerichtssaal mit der Sorge, dass der Umgang zwischen Richtern, Staatsanwälten und Verteidigern in Zukunft ein anderer sein wird.

Angeklagt war Rechtsanwalt Stephan Lucas, ein Münchener Strafverteidiger, den die Spiegel-Gerichtsreporterin Gisela Friedrichsen als einen Menschen charakterisiert hat, der nicht gerade mit einem Gespür dafür gesegnet sei, „was noch oder nicht mehr geht“. Rechtsanwalt Lucas tritt seit einigen Jahren als Staatsanwalt in der Sat.1-Gerichtsshow „Richter Alexander Hold“ auf. Diese Nebentätigkeit mag nicht gerade zu einer besonderen Beliebtheit des Verteidigers in den Gerichtskantinen beigetragen haben. Rechtsanwalt Lucas hatte in der Vorgeschichte ein heiß umkämpftes Verfahren in einem zwar umfangreichen, aber doch alltäglichen, Drogenfall vor dem Landgericht Augsburg verteidigt. Die Staats­an­walt­schaft hatte 26 Fälle zusammen­getragen, bei denen dem damals Angeklagten, einem türkischen Drogenhändler, der Handel mit insgesamt 130 kg Marihuana zur Last gelegt worden war. Derartige Anklagen sind häufig löchrig. Nicht alles, was von den Anklägern als Gold präsentiert wird, glänzt. Umgekehrt ist auch ein vollständiger Freispruch in derartigen Konstellationen eher selten. Da auch die Richter in umfangreichen Drogenverfahren wissen, welche Kratzer eine umfangreiche Hauptverhandlung an dem Lack der Anklage hinterlassen kann, ist es üblich, dass man vor derartigen Verfahren auslotet, ob und wie man das Verfahren abkürzen kann. Ohne derartige Absprachen, deren Rahmen­bedingungen inzwischen auch durch den Gesetzgeber geregelt sind, wären die Kapazitäten der Justiz schon längst gesprengt. Insoweit war es zunächst ein ganz alltäglicher Vorgang, als es zwischen Rechtsanwalt Lucas und den Richtern der 3. Strafkammer des Landgerichts Augsburg, Haeusler und Ballis, zu Gesprächen im Vorfeld der Hauptverhandlung kam. Diese Gespräche – so viel ist sicher – scheiterten. Das Verfahren wurde daraufhin über ein Jahr lang konfliktreich verteidigt. Als dann am Schluss von den ursprünglich angeklagten 130 kg Marihuana nur noch 25 kg übrig blieben – von den ursprünglich angeklagten 26 Taten wurden 19 freigesprochen – sollte man auf den ersten Blick meinen, der Einsatz des Verteidigers habe sich gelohnt.

Wer so denkt hat aber die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Die arg strapazierte 3. Strafkammer des Landgerichts Augsburg verurteilte den damals an­geklagten Türken unter der Feder­führung der Richter Haeusler und Ballis zu achteinhalb Jahren Frei­heits­strafe.

Rechtsanwalts Lucas ging bei diesem Urteil davon aus, dass die Richter von der be­rüchtigten „Straf­rahmen­schere“ in einer Weise Gebrauch gemacht hatten, die die Grenzen des Zulässigen sprengt.

Was hat es mit dieser „Strafrahmenschere“ auf sich? Sie lässt sich an einem Zahlen­beispiel verdeutlichen: Gesetzt, ein Angeklagter bekommt für 130 kg Marihuana mit Geständnis 4 Jahre und 6 Monate – dann kriegt er für 25 kg ohne Geständnis 8 Jahre und 6 Monate. Die Strafrahmenschere drückt also die Spanne aus, die zwischen einem Urteil mit Geständnis und einem Urteil ohne Geständnis liegt.

Es stellt eine unerträgliche, des Rechtsstaats nicht würdige, Zwangslage dar, wenn ein Angeklagter aus reinem Selbstschutz sich gezwungen sieht, ein (zumindest teilweise) falsches Geständnis abzugeben, nur um eine höhere Strafe zu vermeiden. Die Problematik ist jedem Verteidiger, der mit einem Mandanten Vor- und Nachteile einer Einlassung zur Sache erörtert, bekannt. Ent­scheidet sich der Mandant dafür, für seine Wahrheit zu kämpfen, so wird der Ver­teidiger, der ihn auf diesem Weg begleitet, häufig mit einem missbilligenden Unterton als „Konflikt­verteidiger“ bezeichnet.

Würde die Strafrahmenschere tatsächlich so eklatant auseinandergehen, wie in dem Beispiel ge­schildert, so wären wohl nicht nur die Grenzen des guten Geschmacks über­schritten. Auch wer Verständnis für chronisch überlastete Gerichte zeigt und menschlich nachvollziehen kann, welche Wunden konflikt­trächtige Verfahren in der Richter­seele hinterlassen – es gibt auch für Richter Grenzen. Der Mainzer Straf­rechts­professor Volker Erb hat diese Grenzen 1994 in einem Auf­satz mit dem Titel „Absprachen im Strafverfahren als Quelle unbeherrschbarer Risiken für den Rechtsstaat“ beschrieben. Er analysiert Konstellationen, bei denen Richter ihren „Rachemotiven“ freien Lauf lassen und gelangt zu dem Ergebnis, dass „rechts­staats­widrige Exzesse“ im Einzelfall durchaus als Rechtsbeugung (§ 339 StGB), Nötigung (§ 240 StB), vielleicht sogar Aussageerpressung (§ 343 StGB), straf­bar sein können.

Derartige Überlegungen entstammen freilich in erster Linie den Lehr­büchern. Aus gutem Grund gibt es praktisch keine Verurteilungen von Richtern in derartigen Fällen. Selbst wenn manchmal der Eindruck entsteht, dass bei der Entstehung eines Urteils unsachgemäße Motive eine Rolle gespielt haben könnten, werden entsprechende Strafverfahren gegen Richter so gut wie nie eingeleitet. Es wird deren Redlichkeit vermutet.

Ob bzw. in welchem Maße in dem vorangegangenen Verfahren die Grenzen der richter­lichen Entscheidungs­freiheit tatsächlich überschritten wurden, ist bis heute nicht geklärt. Fest steht, dass Rechts­anwalt Lucas in einer Revisions­begründungs­schrift zum Bundesgerichtshof (vgl. BGH 1 StR 104/08 – Beschluss vom 15. April 2008) vortrug, es habe ein Angebot für einen so genannten „Deal“ gegeben. Dabei sei eine Gesamt­frei­heits­strafe von vier Jahren und sechs Monaten für den Fall eines Geständnisses der ursprünglich angeklagten 26 Taten (130 kg) angeboten worden. Dement­sprechend rügte er, nachdem es am Ende achteinhalb Jahre wegen 7 Taten (25 kg) waren, einen Ver­stoß gegen die Grundsätze eines fairen Strafverfahrens.

Die Differenz von acht Jahren und sechs Monaten Gefängnis für 25 kg Marihuana und vier Jahren und sechs Monaten Gefängnis für 130 kg Marihuana lässt sich, wenn sie tatsächlich im Raume stand, nicht mehr mit der straf­mildernden Wirkung eines Geständnisses erklären. Es wäre zu vermuten, dass hier der Angeklagte den – un­an­gemessenen –  Zorn der Richter zu spüren bekommt.

Wenn ein Verteidiger einen solchen Verstoß gegen die Grundsätze eines fairen Straf­verfahrens erkennt, ist es seine Pflicht, diese vor dem Bundes­gerichts­hof, dem höchsten deutschen Strafgericht, deutlich zur Sprache zu bringen. Würde ein Verteidiger aus Schüchtern­heit, falsch verstandener Höflichkeit, Obrigkeits­hörig­keit oder gar Angst eine solche Rüge nicht vorbringen, so hätte er seinen Beruf verfehlt. Straf­prozesse würden zu reinen Gefällig­keits­veranstaltungen und letztendlich zur Farce ver­kümmern.

Doch Rechtsanwalt Lucas hatte ein zweites Mal die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Es ist üblich, in Revisionsbegründungsschriften, an die hohe formale Anforderungen gestellt werden, den Verfahrensgang durch den Verteidiger in eigenen Worten zu schildern. Dabei bleibt dem Verteidiger häufig nichts anderes übrig, als auf seine eigenen Auf­zeichnungen bzw. sein eigenes Gedächtnis zurück­zu­greifen.

Es ist dann im Revisionsverfahren üblich, dass der Bundesgerichtshof dienstliche Stellungnahmen der Beteiligten einholt, um sich ein Bild von den tat­sächlichen Vorgängen zu verschaffen, die in dem Urteil, um das es eigentlich geht, in der Regel nicht dokumentiert sind. Die Berufsrichter des Landgerichts Augsburg, Haeusler und Ballis, bestritten die Darstellung des Rechtsanwalt Lucas (vgl. BGH 1 StR 104/08 – Beschluss vom 15. April 2008):

„Dem Angeklagten wurde seitens VRiLG Haeusler und auch seitens RiLG Ballis zu keiner Zeit ein bestimmtes Strafmaß oder eine Strafobergrenze in Aussicht gestellt. Auch nicht gegenüber Rechtsanwalt Lucas. Und auch nicht geknüpft an irgendwelche Bedingungen wie ein ‚umfassendes Geständnis‘. Ent­gegenstehendes Revisions­vorbringen entspricht nicht der Wahrheit. Richtig ist, dass es ein auf Wunsch und Initiative von Rechtsanwalt Lucas statt­gefundenes Gespräch zwischen ihm und RiLG Ballis im Dienstzimmer des Richters gegeben hat. Zu diesem Gespräch kam – kurz nach Beginn – VRiLG Haeusler auf ausdrücklichen und vor Gesprächsbeginn von RiLG Ballis geäußerten Wunsch dazu. Während dieses Gesprächs wurde seitens der an­wesenden Richter überhaupt keine Strafe/Strafobergrenze in Aussicht gestellt. Vielmehr empfanden es beide anwesenden Berufsrichter als nicht an­genehm, dass Rechtsanwalt Lucas fortwährend pauschal wissen wollte, welches Strafmaß sich die Kammer denn so vorstelle. Eine Antwort, geschweige denn eine ‚Zusage‘ hat er auf sein wiederholtes Fragen nicht bekommen. Daraufhin hat er ‚Hypothesen‘ dergestalt aufgestellt, wie aus seiner Sicht die Vollstreckung für seinen Mandanten ablaufen könnte, würde Herr K. zu einer Strafe mit ‚einer 4 vor dem Komma‘ verurteilt werden. Kommentiert haben beide Richter diese von Rechtsanwalt Lucas ausgeführten Rechen­beispiele einzig damit, dass Rechtsanwalt Lucas erklärt wurde, dass die Kammer die Möglich­keit einer Verständigung nicht von vorn­herein ausschließen will, sich jedoch konkret erst hierzu äußern will, wenn Verteidigung und Staatsanwaltschaft Konsens in ihren Vorstellungen erzielt hätten. VRiLG Haeusler und RiLG Ballis ist nichts darüber bekannt, ob es zwischen Verteidigung und Staatsanwaltschaft Gespräche über die Möglich­keit einer Verständigung gegeben hat. Herangetreten wurde an die Kammer insoweit jedenfalls nicht.“

Dem unbeteiligten Beobachter sollte diese Darstellung der Richter nicht über­raschen. Die Richter hätten – wäre das Vorbringen von Rechtsanwalt Lucas zu­treffend – Grund, den behaupteten Sach­verhalt nicht einzuräumen. Denn würden sie den Inhalt des Revisions­vorbringens bestätigen, würden sie ein­räumen, die Grenzen des Rechts überschritten zu haben.

Wie eine solche Aussagesituation nach den allgemeinen Kriterien der Glaub­würdig­keit zu würdigen ist, hat Rechtsanwalt Dr. Klaus Malek aus Freiburg in seinem Eröffnungsvortrag zum 35. Strafverteidigertag 2011 in Berlin („Abschied von der Wahrheitssuche“) dargestellt. Er konnte sich dabei auf ein Zitat aus einem Standard­werk über „Tatsachenfeststellungen vor Gericht“ (Bender/Nack/Treuer, 3. Auflage, Randnummer 214) stützen. Dort heißt es:

„Manchmal haben Personen, die als charakterlich unverdächtig erscheinen, gerade einen triftigen Grund zur Lüge: Wenn sie die Wahrheit sagten, wäre es um ihren guten Ruf geschehen“.

Pikanterweise hat ausgerechnet der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs, dessen Vor­sitzender Armin Nack einer der Mitherausgeber und Autoren des zitierten Lehr­buchs, ist, sich an diese Weisheit nicht gehalten. Man hielt sich vielmehr offenbar an die Regel „Richter irren nicht.“ Dementsprechend hielt man es nicht für erforderlich, weitere Stellungnahmen – beispielsweise der beteiligten Staatsanwältin – einzuholen. Der Bundesgerichtshof lehnte die Revision ab, mit der Bemerkung, man nehme „nun auch noch mit Befremden zur Kenntnis“, „mit unwahrem Vorbringen konfrontiert“ zu werden.Die Staatsanwaltschaft Augsburg nahm diese Bemerkung zum Anlass und leitete ein Strafverfahren gegen Rechtsanwalt Lucas wegen Strafvereitelung ein. Dem liegt folgender Gedanke zu Grunde: Ein Rechtsanwalt, der bei seinen Ver­teidigungs­aktivitäten bewusst lügt, um für seinen Mandanten günstigere Ergebnisse zu erreichen, überschreitet die Grenzen zulässigen Verteidiger­ver­haltens. Er würde sich bei einer vorsätzlichen Falschbehauptung der (versuchten oder vollendeten) Strafvereitelung schuldig machen. Bislang gab es derartige Anklagen ungefähr genauso selten wie Strafverfahren gegen Richter wegen Rechtsbeugung oder Nötigung bei Ausübung ihres Amtes. Die Anklage gegen den Kollegen wurde von Straf­ver­teidigern daher als Angriff gegen den Berufsstand empfunden. Der Strafverteidigertag sieht in dem Vorgehen der Richter und Staatsanwälte gegen Rechtsanwalt Lucas einen massiven Angriff auf Rechtsanwälte in ihrer Funktion als Organ der Rechtspflege.Wenn Richter und Strafverteidiger ein nicht protokolliertes Gespräch unterschiedlich wiedergeben, dann steht „Aussage gegen Aussage“. In dieser Konstellation bestünde zunächst einmal Anlass, mehr Informationen einzuholen, bevor eine Anklage erhoben wird. Im vorliegenden Fall jedoch wurden die Angaben der Richter von vornherein als richtig zu Grunde gelegt.Durch die verschiedenen Rollen, die Richter, Staatsanwälte und Verteidiger in einem Strafprozess einnehmen, kommt es praktisch täglich vor, dass die Beteiligten den Inhalt einer Zeugenaussage, die Abläufe einer Hauptverhandlung oder eben die Gespräche im Vorfeld eines Verfahrens in den Hinterzimmern des Gerichts unterschiedlich wahrnehmen. Wer diesem Phänomen auf den Grund gehen will, braucht nur einmal ein Ehepaar getrennt voneinander über ein bestimmtes Erlebnis im Urlaub zu befragen, oder wer von beiden die Initiative zum ersten Kuss ergriffen hatte. Fast immer wird man zu ganz unterschiedlichen Erinnerungen der Befragten gelangen, die von den jeweiligen Rollen der Beteiligten abhängen. In der Regel sind die unterschiedlichen Erinnerungen Ausdruck der unterschiedlichen Wahrnehmungsperspektiven, die ein japanisches Sprichwort mit dem Satz umschreibt: „Wer eine grüne Brille trägt, sieht alles grün.“

Nicht ganz so romantisch wie der erste Kuss, aber von der Struktur des menschlichen Denkens durch­aus vergleichbar, ist das Phänomen, dass Richter, Staats­anwälte und Verteidiger ein und dasselbe Geschehen oft sehr unterschiedlich wahr­nehmen und dementsprechend sich auch unterschiedlich erinnern. Jeder, der schon einmal an einem umstrittenen Strafprozess teilgenommen hat, kennt das Gefühl, in einem anderen Film gesessen zu haben.

Gerade aus dieser gemeinsamen Erfahrung aller Strafjuristen heraus schien es bisher in den meisten Fällen ratsam und richtig, die kurzfristig aufkeimende Wut zu über­winden und sich darauf zu besinnen, dass die unterschiedlichen Wahrnehmungen letztlich Ausdruck der Grenzen menschlicher Erkenntnis sind. Vor diesem Hinter­grund gehörten ein gewisser Respekt und eine daraus folgende „Vermutung der Redlich­keit“ für die Vertreter der jeweils anderen juristischen Zunft zum un­aus­ge­sprochenen Konsens des modernen Strafprozesses.

Durch die Einleitung des Verfahrens gegen Rechtsanwalt Lucas hat die Staats­anwalt­schaft Augsburg diesen Konsens auf­gekündigt. Der Prozess gegen Rechts­anwalt Lucas wird daher nicht ohne Grund in Fachkreisen kritisch diskutiert und heftig kritisiert und fand sogar internationale Aufmerksamkeit.

Wie wird ein Verteidiger seiner Pflicht, Verstöße gegen das Recht laut aus­zu­sprechen, nachkommen, wenn er damit rechnen muss, selbst zum An­geklagten zu werden?

Die Staatsanwaltschaft Augsburg hatte durch die Einleitung des Verfahrens nicht nur versucht, einen offenbar unliebsamen Verteidiger zu disziplinieren. Es ging auch nicht nur darum, wie Rechtsanwalt Lucas als Angeklagter in seinem letzten Worten aus­führte, ihn persönlich als unbequemen Verteidiger „zu vernichten“. Es ging in dem Prozess um die Grund­pfeiler des rechts­staatlichen Straf­prozesses.

Jede Diktatur in der Geschichte kündigte sich durch eine langsam beginnende Aus­höhlung der unbequemen Verteidigerrechte an, unter dem Deck­mantel des Erhalts von Recht und Ordnung. Der Strafprozess ist ein Seismograph für den Zustand des Rechts. Jede Erschütterung der Freiheit kann hier in kleinen, zunächst nur für Spezialisten wahr­nehmbaren, Vorbeben gemessen werden. Der Rechtsstaat ist ein zartes Pflänzchen, das nicht sorgsam genug gehegt und gepflegt werden kann. Liberty dies by inches – Freiheit stirbt scheibchenweise.

Der Prozess in Augsburg begann nach längerem Streit um Zuständigkeiten so, wie man es erwartet hatte: Die Richter aus dem voran­gegangenen Verfahren wurden als Zeugen gehört und konnten sich an keine Zusagen über das Strafmaß erinnern.

Dann wurde die Staatsanwältin Klokocka befragt, die damals die Anklage vertreten hatte. Sie konnte sich erinnern. Die jetzt in einem anderen Gerichts­bezirk arbeitende Staats­anwältin führte aus, dass zu Beginn des Verfahrens sie selbst und Rechts­anwalt Lucas in das Beratungszimmer der Kammer gebeten wurden und sie dort von der Kammer aufgefordert wurde, ihre Straf­maß­vorstellungen zu nennen. „Ich nannte diese mit 5 – 6 ½ Jahre bei einem vollen Geständnis und Angaben nach § 31 BtmG; 8 ½ Jahre bei Geständnis, aber ohne Angaben nach § 31 BtmG und 2-stellig ohne Geständnis und Angaben. RiaLG Haeusler sagte, diese Vorstellungen seien generös.“ Ob die Kammer darüber hinaus noch eigene Vorstellungen zum Aus­druck brachte, wusste sie nicht mehr.

Die Verteidiger des Angeklagten Lucas, Hartmut Wächtler aus München und Dr. Jan Bockemühl aus Regensburg, verlangten den Sitzungsbericht, den die Staats­anwältin Klokocka damals angefertigt hatte. Erst nach einem verbalen Gerangel mit den Sitzungs­ver­tretern der Staatsanwaltschaft Augsburg, namentlich Herr Ober­staats­anwalt Dr. Zechmann, wurde dieser Bericht auf Aufforderung des Gerichts heraus­ge­geben. Nun gab es eine weitere Überraschung. Am Rande des Berichts fand sich ein hand­schriftlicher Vermerk eines anderen Staatsanwalts, Christian Grimmeisen, der zwischenzeitlich seine Kollegin Klokocka vertreten hatte: „evtl. auch 4 J. 10 Mo.“ Der damalige Vertreter, Staatsanwalt Grimmeisen, konnte nicht mehr erklären, was es mit diesem Vermerk auf sich hatte.

Jeder nüchterne Beobachter hätte nun erwartet, dass die Staatsanwaltschaft sich um Schadensbegrenzung bemüht. Doch trotz der im Laufe des Prozesses zu Tage tretenden Ungereimtheiten der Anklage forderte Oberstaatsanwalt Dr. Zechmann in seinem Abschlussplädoyer eine Bewährungsstrafe von einem Jahr und neun Monaten sowie ein dreijähriges Berufsverbot für Rechtsanwalt Lucas. Seine Verteidiger Wächtler und Dr. Bockemühl forderten Freispruch.

Besonders bemerkenswert an dem Plädoyer des Oberstaatsanwalts Dr. Zechmann ist unter anderem das Argument, mit welchem dieser sämtliche Widersprüche aus dem Weg zu räumen suchte, die im Laufe des Verfahrens zu Tage getreten waren. Die Zeugenaussagen der Richter Haeusler und Ballis hielt er trotz der  entgegenstehenden Ergebnisse der Beweisaufnahme (beispielsweise aufgrund der Aussage der Staatsanwältin Klokocka) für tragfähig. Ihnen unwahre Angaben zu unterstellen sei „sehr weit hergeholt, wenn man den Beruf sieht, den Richter ausüben.“ Ein wahrhaft schlagkräftiges Argument.

Nach dieser Zuspitzung der Situation war der Druck auf das Landgericht Augsburg enorm. Am 1. April 2011 waren nicht nur zahlreiche Strafverteidiger im Gerichtssaal erschienen, sondern auch der Gerichtspräsident sowie einige Vertreter der überregionalen Presse.

Auch wenn die Urteilsformel – Freispruch! – nicht wirklich überraschte, war im ersten Moment unter den Anwesenden im Gerichtssaal eine deutliche Erleichterung zu spüren. Ein Totalschaden für die Zukunft des Strafprozesses war zunächst einmal ausgeblieben. Doch bei der dann anschließenden Urteilsverkündung stockte dem ein oder anderen im Publikum dann doch noch der Atem.

Viele Zuschauer hatten sich erhofft, durch die Urteilsbegründung würden die Wunden, die der Prozess in das Verhältnis zwischen Verteidigern, Staatsanwälten und Richtern geschlagen hatte, zumindest teilweise geheilt. Diese Hoffnung wurde wohl aus Sicht der meisten Beobachter nicht erfüllt.

Die Urteilsverkündung durch den Vorsitzenden Richter der 3. Straf­kammer, Thomas Junggeburth, fing damit an, dass Rechtsanwalt Lucas, der sich um etwa 15 Minuten ver­spätet hatte, gemaßregelt wurde. Wie er es wagen könne, „sogar in seinem eigenen Prozess“ durch seine Verspätung mangelnden Respekt gegenüber dem Gericht zu zeigen. Was spielte es angesichts dieser Empfindlichkeiten noch für eine Rolle, dass der Richter Junggeburth offenbar der einzige im Saal war, dem es entgangen war, dass es einen Unfall auf der Autobahn von München nach Augs­burg gegeben hatte? Neben Rechtsanwalt Lucas waren viele andere Münchener auf dem Weg nach Augsburg in einem kilometerlangen Stau stecken geblieben.

Gleich zu Beginn der Urteilsbegründung stellte der Vorsitzende dann klar, dass es sich keinesfalls um einen Freispruch erster Klasse (aus erwiesener Unschuld oder aus Rechtsgründen) handele, sondern eher um eine Art Freispruch dritter Klasse – weil ganz knapp der Vorsatz der Täuschung nicht nachgewiesen werden konnte.

Der Vorsitzende Richter am Landgericht Thomas Junggeburth hob dann zu einem Vortrag über die rechtlichen Rahmenbedingungen der Strafverteidigertätigkeit an. Er betonte dabei die Grenzen zulässigen Verteidigerverhaltens. Es gebe keine „dichterische Freiheit“ für Anwälte bei ihrer Berufsausübung.

Angesichts der Bedeutung des Prozesses für die Zukunft der Ver­teidiger­tätigkeit an sich kein falscher Ansatz. Der erhobene Zeigefinger in Richtung des Berufsstandes der Verteidiger wirkte dann aber doch befremdlich, nachdem beispielsweise auf Divergenzen zwischen der Aussage der Staatsanwältin Klokocka und den dienstlichen Stellungsnahmen der Richter praktisch überhaupt nicht eingegangen wurde.

Warum es der Richter Junggeburth für nötig befand, zu betonen, Rechtsanwalt Lucas wirke auf der Anklagebank „kleinlaut“, nachdem er sonst sehr laut­stark auftrete, erschloss sich wohl nur Eingeweihten. Wie würde der Richter sich als Angeklagter in einem Gerichtsprozess verhalten?

Mehrfach betonte das Gericht seine Neutralität – „Wir wollen hier ja nicht ‚Hau den Lucas‘ spielen!“ Nicht jeder Beobachter konnte diese Form des Humors teilen.

Bei der weiteren Urteilsbegründung erläuterte der Vorsitzende seine Sichtweise des Geschehens, wonach der von Rechtsanwalt Lucas in der Revisionsschrift vorgetragene Sachverhalt „objektiv“ falsch war. Dabei ging er von der „uneingeschränkten Glaubwürdigkeit“ der Zeugin Klokocka aus. Es wurde dargelegt, dass es einen erheblichen Unterschied mache, ob ein Geständnis „mit § 31 BtMG“ (d.h. einer Aussage, bei der der Angeklagte als Kronzeuge andere Täter benennt oder belastet) im Raum stehe, oder „ohne § 31 BtMG“ (d.h. einem bloßen Einräumen der angeklagten Tatvorwürfe). In diesem Zusammenhang bediente sich Herr Junggeburth der Metapher, das eine sei eher mit dem Angebot eines „rostigen VW-Käfers“ zu vergleichen (das wäre die Option, als Kronzeuge auszusagen), das andere käme einem Porsche gleich (das wäre ein bloßes Gestehen, ohne Mittäter offenbaren zu müssen).

Der Vorwurf, der gegenüber Rechtsanwalt Lucas aus der Sicht des Gerichts in jedem Fall gemacht werden könne, sei es, mindestens unpräzise gearbeitet zu haben. Daher spielte es für das Gericht auch eine Rolle, dass der Anwalt in der Zeit, als er die umstrittenen Sätze in seinem Revisionsschriftsatz aufnahm, beruflich stark eingebunden war. Aus diesem Grunde könne nicht ausgeschlossen werden, dass es sich bei den verwendeten Formulierungen um Schlamperei gehandelt habe.

Dem während des Prozesses aufgetauchten Zettel mit dem handschriftlichen Vermerk „evtl. auch 4 J. 10 Mo.“ maß das Gericht keine wesentliche Bedeutung bei. Zum einen seien 4 Jahre und 6 Monate (so das Revisionsvorbringen von Rechtsanwalt Lucas) etwas anderes, als „4 Jahre 10 Monate“ (so der handschriftliche Vermerk auf dem Sitzungsbericht). Zum anderen deutete der Vorsitzende an, er halte es für wahrscheinlich, dass dieser handschriftliche Vermerk sich auf ein anderes Verfahren oder einen anderen Angeklagten bezogen hatte.

Gleichwohl äußerte der Vorsitzende in einem Nebensatz in Richtung der anwesenden Sitzungs­vertreter der Staatsanwaltschaft, er habe kein Verständnis dafür, dass der Sitzungsbericht dem Gericht nicht vorgelegt worden war.

Man hätte sich ein klareres Wort in Richtung der Anklagebehörde gewünscht. Insbesondere wäre zu hoffen gewesen, dass das Gericht dazu Stellung bezieht, inwieweit die Aussagen der Staatsanwältin Klokocka mit der dienstlichen Stellungnahme der Richter Haeusler und Ballis bzw. deren Zeugenaussagen vereinbar sind. Hierzu hielt sich das Gericht jedoch zurück.

Immerhin räumte der Richter ein, dass in dem Verfahren die Beweisaufnahme einiges Erhellendes zu Tage gebracht hatte, was bei Anklageerhebung noch nicht berücksichtigt worden war. Eine vorsichtige Kritik an den Anklägern konnte man in der Bemerkung sehen, derartige Verfahren gegen Strafverteidiger sollten in der Zukunft auf das Notwendigste beschränkt werden.

Der Richter Thomas Junggeburth sparte demgegenüber nicht mit Kritik an den beiden Ver­teidigern des Angeklagten Lucas, dem Münchener Rechtsanwalt Hartmut Wächtler und dem Regensburger Anwalt Dr. Jan Bockemühl. Diesen wurde vor­geworfen, die Presse instrumentalisiert zu haben. Aus Sicht des Richters Junggeburth war es der Versuch einer unlauteren Einflussnahme auf die richterliche Un­ab­hängig­keit, dass man sich von Anfang an um eine größtmögliche Kontrolle des Ver­fahrens durch die Öffentlichkeit bemüht hatte.

In diesem Zusammenhang bezeichnete es Richter Junggeburth als „beispiellose Respektlosigkeit“, dass der Vorsitzende der Münchener Rechtsanwaltskammer, Hansjörg Staehle, kurz vor der Urteilsverkündung der Süddeutschen Zeitung ein Interview gegeben hatte, in welchem das Befremden der Anwaltschaft über den Prozess deutlich geworden war.

Der Vorsitzende Richter am Landgericht Thomas Junggeburth sah es mit der Würde des ihm anvertrauten Amtes vereinbar, die Einkommensverhältnisse des gerade Freigesprochenen auszubreiten, mit dem Unterton, es sei ja menschlich irgend­wie nachvollziehbar, wenn sich ein Verteidiger angesichts der harten Wett­bewerbs­bedingungen unter Anwälten versuche, zu profilieren.

Verwirrt verließen die meisten Anwesenden nach Urteilsverkündung den Gerichts­saal. Am Tag darauf war in der Augsburger Allgemeinen Zeitung zu lesen, dass die Augsburger Staatsanwaltschaft erneut einen Strafverteidiger wegen des Verdachts der Strafvereitelung angeklagt haben soll.

Viele Strafverteidiger in ganz Deutschland beobachten die Vorgänge in Augsburg. Sie sind empört und besorgt. Einige prüfen Strafanzeigen gegen die Richter, die sich an nichts mehr erinnern konnten und gegen die Staatsanwälte, die womöglich ein entlastendes Dokument dem Gericht vorenthalten haben.

Sollte es tatsächlich zu der Einleitung von Strafverfahren gegen die beteiligten Justiz­angehörigen kommen, so wird man diesen wünschen können, dass sie qualifizierte und engagierte Strafverteidiger finden werden, die sich für ihre Rechte als Beschuldigte einsetzen.

Nachtrag: Am 11. April 2011 wurde bekannt, dass die Staatsanwaltschaft keine Revision gegen den Freispruch eingelegt hat. Das Urteil ist damit rechtskräftig und – zumindest für Rechtsanwalt Lucas – endgültig abgeschlossen.

Der Text stützt sich zum Teil auf eigene Wahrnehmungen und den Beschluss des BGH 1 StR 104/08 vom 15. April 2008. Soweit die Abläufe der Hauptverhandlung geschildert werden, wird im Wesentlichen auf den Prozessbericht Bezug genommen, den Rechtsanwalt Rolf Grabow für die Strafverteidigervereinigungen veröffentlicht hat.