Können Richter irren? – Strafprozess gegen einen Verteidiger bei „Aussage gegen Aussage“

Prozessbericht von Rechtsanwalt Dr. Tobias Rudolph,

Fachanwalt für Strafrecht und Fachanwalt für Steuerrecht aus Nürnberg

Die Zuschauer, die am 1. April 2011 ins Landgericht Augsburg gekommen waren, um der Urteilsverkündung in dem Strafverfahren gegen Rechts­anwalt Stephan Lucas beizuwohnen, wurden Zeugen eines ungewöhnlichen Verfahrens. Den meisten der Anwesenden – in der Mehrzahl Strafverteidiger, die aus Solidarität mit dem an­geklagten Kollegen angereist waren – hatte es trotz des erwarteten Freispruchs bei der Urteilsverkündung die Sprache verschlagen. Viele verließen den Gerichtssaal mit der Sorge, dass der Umgang zwischen Richtern, Staatsanwälten und Verteidigern in Zukunft ein anderer sein wird.

Angeklagt war Rechtsanwalt Stephan Lucas, ein Münchener Strafverteidiger, den die Spiegel-Gerichtsreporterin Gisela Friedrichsen als einen Menschen charakterisiert hat, der nicht gerade mit einem Gespür dafür gesegnet sei, „was noch oder nicht mehr geht“. Rechtsanwalt Lucas tritt seit einigen Jahren als Staatsanwalt in der Sat.1-Gerichtsshow „Richter Alexander Hold“ auf. Diese Nebentätigkeit mag nicht gerade zu einer besonderen Beliebtheit des Verteidigers in den Gerichtskantinen beigetragen haben. Rechtsanwalt Lucas hatte in der Vorgeschichte ein heiß umkämpftes Verfahren in einem zwar umfangreichen, aber doch alltäglichen, Drogenfall vor dem Landgericht Augsburg verteidigt. Die Staats­an­walt­schaft hatte 26 Fälle zusammen­getragen, bei denen dem damals Angeklagten, einem türkischen Drogenhändler, der Handel mit insgesamt 130 kg Marihuana zur Last gelegt worden war. Derartige Anklagen sind häufig löchrig. Nicht alles, was von den Anklägern als Gold präsentiert wird, glänzt. Umgekehrt ist auch ein vollständiger Freispruch in derartigen Konstellationen eher selten. Da auch die Richter in umfangreichen Drogenverfahren wissen, welche Kratzer eine umfangreiche Hauptverhandlung an dem Lack der Anklage hinterlassen kann, ist es üblich, dass man vor derartigen Verfahren auslotet, ob und wie man das Verfahren abkürzen kann. Ohne derartige Absprachen, deren Rahmen­bedingungen inzwischen auch durch den Gesetzgeber geregelt sind, wären die Kapazitäten der Justiz schon längst gesprengt. Insoweit war es zunächst ein ganz alltäglicher Vorgang, als es zwischen Rechtsanwalt Lucas und den Richtern der 3. Strafkammer des Landgerichts Augsburg, Haeusler und Ballis, zu Gesprächen im Vorfeld der Hauptverhandlung kam. Diese Gespräche – so viel ist sicher – scheiterten. Das Verfahren wurde daraufhin über ein Jahr lang konfliktreich verteidigt. Als dann am Schluss von den ursprünglich angeklagten 130 kg Marihuana nur noch 25 kg übrig blieben – von den ursprünglich angeklagten 26 Taten wurden 19 freigesprochen – sollte man auf den ersten Blick meinen, der Einsatz des Verteidigers habe sich gelohnt.

Wer so denkt hat aber die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Die arg strapazierte 3. Strafkammer des Landgerichts Augsburg verurteilte den damals an­geklagten Türken unter der Feder­führung der Richter Haeusler und Ballis zu achteinhalb Jahren Frei­heits­strafe.

Rechtsanwalts Lucas ging bei diesem Urteil davon aus, dass die Richter von der be­rüchtigten „Straf­rahmen­schere“ in einer Weise Gebrauch gemacht hatten, die die Grenzen des Zulässigen sprengt.

Was hat es mit dieser „Strafrahmenschere“ auf sich? Sie lässt sich an einem Zahlen­beispiel verdeutlichen: Gesetzt, ein Angeklagter bekommt für 130 kg Marihuana mit Geständnis 4 Jahre und 6 Monate – dann kriegt er für 25 kg ohne Geständnis 8 Jahre und 6 Monate. Die Strafrahmenschere drückt also die Spanne aus, die zwischen einem Urteil mit Geständnis und einem Urteil ohne Geständnis liegt.

Es stellt eine unerträgliche, des Rechtsstaats nicht würdige, Zwangslage dar, wenn ein Angeklagter aus reinem Selbstschutz sich gezwungen sieht, ein (zumindest teilweise) falsches Geständnis abzugeben, nur um eine höhere Strafe zu vermeiden. Die Problematik ist jedem Verteidiger, der mit einem Mandanten Vor- und Nachteile einer Einlassung zur Sache erörtert, bekannt. Ent­scheidet sich der Mandant dafür, für seine Wahrheit zu kämpfen, so wird der Ver­teidiger, der ihn auf diesem Weg begleitet, häufig mit einem missbilligenden Unterton als „Konflikt­verteidiger“ bezeichnet.

Würde die Strafrahmenschere tatsächlich so eklatant auseinandergehen, wie in dem Beispiel ge­schildert, so wären wohl nicht nur die Grenzen des guten Geschmacks über­schritten. Auch wer Verständnis für chronisch überlastete Gerichte zeigt und menschlich nachvollziehen kann, welche Wunden konflikt­trächtige Verfahren in der Richter­seele hinterlassen – es gibt auch für Richter Grenzen. Der Mainzer Straf­rechts­professor Volker Erb hat diese Grenzen 1994 in einem Auf­satz mit dem Titel „Absprachen im Strafverfahren als Quelle unbeherrschbarer Risiken für den Rechtsstaat“ beschrieben. Er analysiert Konstellationen, bei denen Richter ihren „Rachemotiven“ freien Lauf lassen und gelangt zu dem Ergebnis, dass „rechts­staats­widrige Exzesse“ im Einzelfall durchaus als Rechtsbeugung (§ 339 StGB), Nötigung (§ 240 StB), vielleicht sogar Aussageerpressung (§ 343 StGB), straf­bar sein können.

Derartige Überlegungen entstammen freilich in erster Linie den Lehr­büchern. Aus gutem Grund gibt es praktisch keine Verurteilungen von Richtern in derartigen Fällen. Selbst wenn manchmal der Eindruck entsteht, dass bei der Entstehung eines Urteils unsachgemäße Motive eine Rolle gespielt haben könnten, werden entsprechende Strafverfahren gegen Richter so gut wie nie eingeleitet. Es wird deren Redlichkeit vermutet.

Ob bzw. in welchem Maße in dem vorangegangenen Verfahren die Grenzen der richter­lichen Entscheidungs­freiheit tatsächlich überschritten wurden, ist bis heute nicht geklärt. Fest steht, dass Rechts­anwalt Lucas in einer Revisions­begründungs­schrift zum Bundesgerichtshof (vgl. BGH 1 StR 104/08 – Beschluss vom 15. April 2008) vortrug, es habe ein Angebot für einen so genannten „Deal“ gegeben. Dabei sei eine Gesamt­frei­heits­strafe von vier Jahren und sechs Monaten für den Fall eines Geständnisses der ursprünglich angeklagten 26 Taten (130 kg) angeboten worden. Dement­sprechend rügte er, nachdem es am Ende achteinhalb Jahre wegen 7 Taten (25 kg) waren, einen Ver­stoß gegen die Grundsätze eines fairen Strafverfahrens.

Die Differenz von acht Jahren und sechs Monaten Gefängnis für 25 kg Marihuana und vier Jahren und sechs Monaten Gefängnis für 130 kg Marihuana lässt sich, wenn sie tatsächlich im Raume stand, nicht mehr mit der straf­mildernden Wirkung eines Geständnisses erklären. Es wäre zu vermuten, dass hier der Angeklagte den – un­an­gemessenen –  Zorn der Richter zu spüren bekommt.

Wenn ein Verteidiger einen solchen Verstoß gegen die Grundsätze eines fairen Straf­verfahrens erkennt, ist es seine Pflicht, diese vor dem Bundes­gerichts­hof, dem höchsten deutschen Strafgericht, deutlich zur Sprache zu bringen. Würde ein Verteidiger aus Schüchtern­heit, falsch verstandener Höflichkeit, Obrigkeits­hörig­keit oder gar Angst eine solche Rüge nicht vorbringen, so hätte er seinen Beruf verfehlt. Straf­prozesse würden zu reinen Gefällig­keits­veranstaltungen und letztendlich zur Farce ver­kümmern.

Doch Rechtsanwalt Lucas hatte ein zweites Mal die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Es ist üblich, in Revisionsbegründungsschriften, an die hohe formale Anforderungen gestellt werden, den Verfahrensgang durch den Verteidiger in eigenen Worten zu schildern. Dabei bleibt dem Verteidiger häufig nichts anderes übrig, als auf seine eigenen Auf­zeichnungen bzw. sein eigenes Gedächtnis zurück­zu­greifen.

Es ist dann im Revisionsverfahren üblich, dass der Bundesgerichtshof dienstliche Stellungnahmen der Beteiligten einholt, um sich ein Bild von den tat­sächlichen Vorgängen zu verschaffen, die in dem Urteil, um das es eigentlich geht, in der Regel nicht dokumentiert sind. Die Berufsrichter des Landgerichts Augsburg, Haeusler und Ballis, bestritten die Darstellung des Rechtsanwalt Lucas (vgl. BGH 1 StR 104/08 – Beschluss vom 15. April 2008):

„Dem Angeklagten wurde seitens VRiLG Haeusler und auch seitens RiLG Ballis zu keiner Zeit ein bestimmtes Strafmaß oder eine Strafobergrenze in Aussicht gestellt. Auch nicht gegenüber Rechtsanwalt Lucas. Und auch nicht geknüpft an irgendwelche Bedingungen wie ein ‚umfassendes Geständnis‘. Ent­gegenstehendes Revisions­vorbringen entspricht nicht der Wahrheit. Richtig ist, dass es ein auf Wunsch und Initiative von Rechtsanwalt Lucas statt­gefundenes Gespräch zwischen ihm und RiLG Ballis im Dienstzimmer des Richters gegeben hat. Zu diesem Gespräch kam – kurz nach Beginn – VRiLG Haeusler auf ausdrücklichen und vor Gesprächsbeginn von RiLG Ballis geäußerten Wunsch dazu. Während dieses Gesprächs wurde seitens der an­wesenden Richter überhaupt keine Strafe/Strafobergrenze in Aussicht gestellt. Vielmehr empfanden es beide anwesenden Berufsrichter als nicht an­genehm, dass Rechtsanwalt Lucas fortwährend pauschal wissen wollte, welches Strafmaß sich die Kammer denn so vorstelle. Eine Antwort, geschweige denn eine ‚Zusage‘ hat er auf sein wiederholtes Fragen nicht bekommen. Daraufhin hat er ‚Hypothesen‘ dergestalt aufgestellt, wie aus seiner Sicht die Vollstreckung für seinen Mandanten ablaufen könnte, würde Herr K. zu einer Strafe mit ‚einer 4 vor dem Komma‘ verurteilt werden. Kommentiert haben beide Richter diese von Rechtsanwalt Lucas ausgeführten Rechen­beispiele einzig damit, dass Rechtsanwalt Lucas erklärt wurde, dass die Kammer die Möglich­keit einer Verständigung nicht von vorn­herein ausschließen will, sich jedoch konkret erst hierzu äußern will, wenn Verteidigung und Staatsanwaltschaft Konsens in ihren Vorstellungen erzielt hätten. VRiLG Haeusler und RiLG Ballis ist nichts darüber bekannt, ob es zwischen Verteidigung und Staatsanwaltschaft Gespräche über die Möglich­keit einer Verständigung gegeben hat. Herangetreten wurde an die Kammer insoweit jedenfalls nicht.“

Dem unbeteiligten Beobachter sollte diese Darstellung der Richter nicht über­raschen. Die Richter hätten – wäre das Vorbringen von Rechtsanwalt Lucas zu­treffend – Grund, den behaupteten Sach­verhalt nicht einzuräumen. Denn würden sie den Inhalt des Revisions­vorbringens bestätigen, würden sie ein­räumen, die Grenzen des Rechts überschritten zu haben.

Wie eine solche Aussagesituation nach den allgemeinen Kriterien der Glaub­würdig­keit zu würdigen ist, hat Rechtsanwalt Dr. Klaus Malek aus Freiburg in seinem Eröffnungsvortrag zum 35. Strafverteidigertag 2011 in Berlin („Abschied von der Wahrheitssuche“) dargestellt. Er konnte sich dabei auf ein Zitat aus einem Standard­werk über „Tatsachenfeststellungen vor Gericht“ (Bender/Nack/Treuer, 3. Auflage, Randnummer 214) stützen. Dort heißt es:

„Manchmal haben Personen, die als charakterlich unverdächtig erscheinen, gerade einen triftigen Grund zur Lüge: Wenn sie die Wahrheit sagten, wäre es um ihren guten Ruf geschehen“.

Pikanterweise hat ausgerechnet der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs, dessen Vor­sitzender Armin Nack einer der Mitherausgeber und Autoren des zitierten Lehr­buchs, ist, sich an diese Weisheit nicht gehalten. Man hielt sich vielmehr offenbar an die Regel „Richter irren nicht.“ Dementsprechend hielt man es nicht für erforderlich, weitere Stellungnahmen – beispielsweise der beteiligten Staatsanwältin – einzuholen. Der Bundesgerichtshof lehnte die Revision ab, mit der Bemerkung, man nehme „nun auch noch mit Befremden zur Kenntnis“, „mit unwahrem Vorbringen konfrontiert“ zu werden.Die Staatsanwaltschaft Augsburg nahm diese Bemerkung zum Anlass und leitete ein Strafverfahren gegen Rechtsanwalt Lucas wegen Strafvereitelung ein. Dem liegt folgender Gedanke zu Grunde: Ein Rechtsanwalt, der bei seinen Ver­teidigungs­aktivitäten bewusst lügt, um für seinen Mandanten günstigere Ergebnisse zu erreichen, überschreitet die Grenzen zulässigen Verteidiger­ver­haltens. Er würde sich bei einer vorsätzlichen Falschbehauptung der (versuchten oder vollendeten) Strafvereitelung schuldig machen. Bislang gab es derartige Anklagen ungefähr genauso selten wie Strafverfahren gegen Richter wegen Rechtsbeugung oder Nötigung bei Ausübung ihres Amtes. Die Anklage gegen den Kollegen wurde von Straf­ver­teidigern daher als Angriff gegen den Berufsstand empfunden. Der Strafverteidigertag sieht in dem Vorgehen der Richter und Staatsanwälte gegen Rechtsanwalt Lucas einen massiven Angriff auf Rechtsanwälte in ihrer Funktion als Organ der Rechtspflege.Wenn Richter und Strafverteidiger ein nicht protokolliertes Gespräch unterschiedlich wiedergeben, dann steht „Aussage gegen Aussage“. In dieser Konstellation bestünde zunächst einmal Anlass, mehr Informationen einzuholen, bevor eine Anklage erhoben wird. Im vorliegenden Fall jedoch wurden die Angaben der Richter von vornherein als richtig zu Grunde gelegt.Durch die verschiedenen Rollen, die Richter, Staatsanwälte und Verteidiger in einem Strafprozess einnehmen, kommt es praktisch täglich vor, dass die Beteiligten den Inhalt einer Zeugenaussage, die Abläufe einer Hauptverhandlung oder eben die Gespräche im Vorfeld eines Verfahrens in den Hinterzimmern des Gerichts unterschiedlich wahrnehmen. Wer diesem Phänomen auf den Grund gehen will, braucht nur einmal ein Ehepaar getrennt voneinander über ein bestimmtes Erlebnis im Urlaub zu befragen, oder wer von beiden die Initiative zum ersten Kuss ergriffen hatte. Fast immer wird man zu ganz unterschiedlichen Erinnerungen der Befragten gelangen, die von den jeweiligen Rollen der Beteiligten abhängen. In der Regel sind die unterschiedlichen Erinnerungen Ausdruck der unterschiedlichen Wahrnehmungsperspektiven, die ein japanisches Sprichwort mit dem Satz umschreibt: „Wer eine grüne Brille trägt, sieht alles grün.“

Nicht ganz so romantisch wie der erste Kuss, aber von der Struktur des menschlichen Denkens durch­aus vergleichbar, ist das Phänomen, dass Richter, Staats­anwälte und Verteidiger ein und dasselbe Geschehen oft sehr unterschiedlich wahr­nehmen und dementsprechend sich auch unterschiedlich erinnern. Jeder, der schon einmal an einem umstrittenen Strafprozess teilgenommen hat, kennt das Gefühl, in einem anderen Film gesessen zu haben.

Gerade aus dieser gemeinsamen Erfahrung aller Strafjuristen heraus schien es bisher in den meisten Fällen ratsam und richtig, die kurzfristig aufkeimende Wut zu über­winden und sich darauf zu besinnen, dass die unterschiedlichen Wahrnehmungen letztlich Ausdruck der Grenzen menschlicher Erkenntnis sind. Vor diesem Hinter­grund gehörten ein gewisser Respekt und eine daraus folgende „Vermutung der Redlich­keit“ für die Vertreter der jeweils anderen juristischen Zunft zum un­aus­ge­sprochenen Konsens des modernen Strafprozesses.

Durch die Einleitung des Verfahrens gegen Rechtsanwalt Lucas hat die Staats­anwalt­schaft Augsburg diesen Konsens auf­gekündigt. Der Prozess gegen Rechts­anwalt Lucas wird daher nicht ohne Grund in Fachkreisen kritisch diskutiert und heftig kritisiert und fand sogar internationale Aufmerksamkeit.

Wie wird ein Verteidiger seiner Pflicht, Verstöße gegen das Recht laut aus­zu­sprechen, nachkommen, wenn er damit rechnen muss, selbst zum An­geklagten zu werden?

Die Staatsanwaltschaft Augsburg hatte durch die Einleitung des Verfahrens nicht nur versucht, einen offenbar unliebsamen Verteidiger zu disziplinieren. Es ging auch nicht nur darum, wie Rechtsanwalt Lucas als Angeklagter in seinem letzten Worten aus­führte, ihn persönlich als unbequemen Verteidiger „zu vernichten“. Es ging in dem Prozess um die Grund­pfeiler des rechts­staatlichen Straf­prozesses.

Jede Diktatur in der Geschichte kündigte sich durch eine langsam beginnende Aus­höhlung der unbequemen Verteidigerrechte an, unter dem Deck­mantel des Erhalts von Recht und Ordnung. Der Strafprozess ist ein Seismograph für den Zustand des Rechts. Jede Erschütterung der Freiheit kann hier in kleinen, zunächst nur für Spezialisten wahr­nehmbaren, Vorbeben gemessen werden. Der Rechtsstaat ist ein zartes Pflänzchen, das nicht sorgsam genug gehegt und gepflegt werden kann. Liberty dies by inches – Freiheit stirbt scheibchenweise.

Der Prozess in Augsburg begann nach längerem Streit um Zuständigkeiten so, wie man es erwartet hatte: Die Richter aus dem voran­gegangenen Verfahren wurden als Zeugen gehört und konnten sich an keine Zusagen über das Strafmaß erinnern.

Dann wurde die Staatsanwältin Klokocka befragt, die damals die Anklage vertreten hatte. Sie konnte sich erinnern. Die jetzt in einem anderen Gerichts­bezirk arbeitende Staats­anwältin führte aus, dass zu Beginn des Verfahrens sie selbst und Rechts­anwalt Lucas in das Beratungszimmer der Kammer gebeten wurden und sie dort von der Kammer aufgefordert wurde, ihre Straf­maß­vorstellungen zu nennen. „Ich nannte diese mit 5 – 6 ½ Jahre bei einem vollen Geständnis und Angaben nach § 31 BtmG; 8 ½ Jahre bei Geständnis, aber ohne Angaben nach § 31 BtmG und 2-stellig ohne Geständnis und Angaben. RiaLG Haeusler sagte, diese Vorstellungen seien generös.“ Ob die Kammer darüber hinaus noch eigene Vorstellungen zum Aus­druck brachte, wusste sie nicht mehr.

Die Verteidiger des Angeklagten Lucas, Hartmut Wächtler aus München und Dr. Jan Bockemühl aus Regensburg, verlangten den Sitzungsbericht, den die Staats­anwältin Klokocka damals angefertigt hatte. Erst nach einem verbalen Gerangel mit den Sitzungs­ver­tretern der Staatsanwaltschaft Augsburg, namentlich Herr Ober­staats­anwalt Dr. Zechmann, wurde dieser Bericht auf Aufforderung des Gerichts heraus­ge­geben. Nun gab es eine weitere Überraschung. Am Rande des Berichts fand sich ein hand­schriftlicher Vermerk eines anderen Staatsanwalts, Christian Grimmeisen, der zwischenzeitlich seine Kollegin Klokocka vertreten hatte: „evtl. auch 4 J. 10 Mo.“ Der damalige Vertreter, Staatsanwalt Grimmeisen, konnte nicht mehr erklären, was es mit diesem Vermerk auf sich hatte.

Jeder nüchterne Beobachter hätte nun erwartet, dass die Staatsanwaltschaft sich um Schadensbegrenzung bemüht. Doch trotz der im Laufe des Prozesses zu Tage tretenden Ungereimtheiten der Anklage forderte Oberstaatsanwalt Dr. Zechmann in seinem Abschlussplädoyer eine Bewährungsstrafe von einem Jahr und neun Monaten sowie ein dreijähriges Berufsverbot für Rechtsanwalt Lucas. Seine Verteidiger Wächtler und Dr. Bockemühl forderten Freispruch.

Besonders bemerkenswert an dem Plädoyer des Oberstaatsanwalts Dr. Zechmann ist unter anderem das Argument, mit welchem dieser sämtliche Widersprüche aus dem Weg zu räumen suchte, die im Laufe des Verfahrens zu Tage getreten waren. Die Zeugenaussagen der Richter Haeusler und Ballis hielt er trotz der  entgegenstehenden Ergebnisse der Beweisaufnahme (beispielsweise aufgrund der Aussage der Staatsanwältin Klokocka) für tragfähig. Ihnen unwahre Angaben zu unterstellen sei „sehr weit hergeholt, wenn man den Beruf sieht, den Richter ausüben.“ Ein wahrhaft schlagkräftiges Argument.

Nach dieser Zuspitzung der Situation war der Druck auf das Landgericht Augsburg enorm. Am 1. April 2011 waren nicht nur zahlreiche Strafverteidiger im Gerichtssaal erschienen, sondern auch der Gerichtspräsident sowie einige Vertreter der überregionalen Presse.

Auch wenn die Urteilsformel – Freispruch! – nicht wirklich überraschte, war im ersten Moment unter den Anwesenden im Gerichtssaal eine deutliche Erleichterung zu spüren. Ein Totalschaden für die Zukunft des Strafprozesses war zunächst einmal ausgeblieben. Doch bei der dann anschließenden Urteilsverkündung stockte dem ein oder anderen im Publikum dann doch noch der Atem.

Viele Zuschauer hatten sich erhofft, durch die Urteilsbegründung würden die Wunden, die der Prozess in das Verhältnis zwischen Verteidigern, Staatsanwälten und Richtern geschlagen hatte, zumindest teilweise geheilt. Diese Hoffnung wurde wohl aus Sicht der meisten Beobachter nicht erfüllt.

Die Urteilsverkündung durch den Vorsitzenden Richter der 3. Straf­kammer, Thomas Junggeburth, fing damit an, dass Rechtsanwalt Lucas, der sich um etwa 15 Minuten ver­spätet hatte, gemaßregelt wurde. Wie er es wagen könne, „sogar in seinem eigenen Prozess“ durch seine Verspätung mangelnden Respekt gegenüber dem Gericht zu zeigen. Was spielte es angesichts dieser Empfindlichkeiten noch für eine Rolle, dass der Richter Junggeburth offenbar der einzige im Saal war, dem es entgangen war, dass es einen Unfall auf der Autobahn von München nach Augs­burg gegeben hatte? Neben Rechtsanwalt Lucas waren viele andere Münchener auf dem Weg nach Augsburg in einem kilometerlangen Stau stecken geblieben.

Gleich zu Beginn der Urteilsbegründung stellte der Vorsitzende dann klar, dass es sich keinesfalls um einen Freispruch erster Klasse (aus erwiesener Unschuld oder aus Rechtsgründen) handele, sondern eher um eine Art Freispruch dritter Klasse – weil ganz knapp der Vorsatz der Täuschung nicht nachgewiesen werden konnte.

Der Vorsitzende Richter am Landgericht Thomas Junggeburth hob dann zu einem Vortrag über die rechtlichen Rahmenbedingungen der Strafverteidigertätigkeit an. Er betonte dabei die Grenzen zulässigen Verteidigerverhaltens. Es gebe keine „dichterische Freiheit“ für Anwälte bei ihrer Berufsausübung.

Angesichts der Bedeutung des Prozesses für die Zukunft der Ver­teidiger­tätigkeit an sich kein falscher Ansatz. Der erhobene Zeigefinger in Richtung des Berufsstandes der Verteidiger wirkte dann aber doch befremdlich, nachdem beispielsweise auf Divergenzen zwischen der Aussage der Staatsanwältin Klokocka und den dienstlichen Stellungsnahmen der Richter praktisch überhaupt nicht eingegangen wurde.

Warum es der Richter Junggeburth für nötig befand, zu betonen, Rechtsanwalt Lucas wirke auf der Anklagebank „kleinlaut“, nachdem er sonst sehr laut­stark auftrete, erschloss sich wohl nur Eingeweihten. Wie würde der Richter sich als Angeklagter in einem Gerichtsprozess verhalten?

Mehrfach betonte das Gericht seine Neutralität – „Wir wollen hier ja nicht ‚Hau den Lucas‘ spielen!“ Nicht jeder Beobachter konnte diese Form des Humors teilen.

Bei der weiteren Urteilsbegründung erläuterte der Vorsitzende seine Sichtweise des Geschehens, wonach der von Rechtsanwalt Lucas in der Revisionsschrift vorgetragene Sachverhalt „objektiv“ falsch war. Dabei ging er von der „uneingeschränkten Glaubwürdigkeit“ der Zeugin Klokocka aus. Es wurde dargelegt, dass es einen erheblichen Unterschied mache, ob ein Geständnis „mit § 31 BtMG“ (d.h. einer Aussage, bei der der Angeklagte als Kronzeuge andere Täter benennt oder belastet) im Raum stehe, oder „ohne § 31 BtMG“ (d.h. einem bloßen Einräumen der angeklagten Tatvorwürfe). In diesem Zusammenhang bediente sich Herr Junggeburth der Metapher, das eine sei eher mit dem Angebot eines „rostigen VW-Käfers“ zu vergleichen (das wäre die Option, als Kronzeuge auszusagen), das andere käme einem Porsche gleich (das wäre ein bloßes Gestehen, ohne Mittäter offenbaren zu müssen).

Der Vorwurf, der gegenüber Rechtsanwalt Lucas aus der Sicht des Gerichts in jedem Fall gemacht werden könne, sei es, mindestens unpräzise gearbeitet zu haben. Daher spielte es für das Gericht auch eine Rolle, dass der Anwalt in der Zeit, als er die umstrittenen Sätze in seinem Revisionsschriftsatz aufnahm, beruflich stark eingebunden war. Aus diesem Grunde könne nicht ausgeschlossen werden, dass es sich bei den verwendeten Formulierungen um Schlamperei gehandelt habe.

Dem während des Prozesses aufgetauchten Zettel mit dem handschriftlichen Vermerk „evtl. auch 4 J. 10 Mo.“ maß das Gericht keine wesentliche Bedeutung bei. Zum einen seien 4 Jahre und 6 Monate (so das Revisionsvorbringen von Rechtsanwalt Lucas) etwas anderes, als „4 Jahre 10 Monate“ (so der handschriftliche Vermerk auf dem Sitzungsbericht). Zum anderen deutete der Vorsitzende an, er halte es für wahrscheinlich, dass dieser handschriftliche Vermerk sich auf ein anderes Verfahren oder einen anderen Angeklagten bezogen hatte.

Gleichwohl äußerte der Vorsitzende in einem Nebensatz in Richtung der anwesenden Sitzungs­vertreter der Staatsanwaltschaft, er habe kein Verständnis dafür, dass der Sitzungsbericht dem Gericht nicht vorgelegt worden war.

Man hätte sich ein klareres Wort in Richtung der Anklagebehörde gewünscht. Insbesondere wäre zu hoffen gewesen, dass das Gericht dazu Stellung bezieht, inwieweit die Aussagen der Staatsanwältin Klokocka mit der dienstlichen Stellungnahme der Richter Haeusler und Ballis bzw. deren Zeugenaussagen vereinbar sind. Hierzu hielt sich das Gericht jedoch zurück.

Immerhin räumte der Richter ein, dass in dem Verfahren die Beweisaufnahme einiges Erhellendes zu Tage gebracht hatte, was bei Anklageerhebung noch nicht berücksichtigt worden war. Eine vorsichtige Kritik an den Anklägern konnte man in der Bemerkung sehen, derartige Verfahren gegen Strafverteidiger sollten in der Zukunft auf das Notwendigste beschränkt werden.

Der Richter Thomas Junggeburth sparte demgegenüber nicht mit Kritik an den beiden Ver­teidigern des Angeklagten Lucas, dem Münchener Rechtsanwalt Hartmut Wächtler und dem Regensburger Anwalt Dr. Jan Bockemühl. Diesen wurde vor­geworfen, die Presse instrumentalisiert zu haben. Aus Sicht des Richters Junggeburth war es der Versuch einer unlauteren Einflussnahme auf die richterliche Un­ab­hängig­keit, dass man sich von Anfang an um eine größtmögliche Kontrolle des Ver­fahrens durch die Öffentlichkeit bemüht hatte.

In diesem Zusammenhang bezeichnete es Richter Junggeburth als „beispiellose Respektlosigkeit“, dass der Vorsitzende der Münchener Rechtsanwaltskammer, Hansjörg Staehle, kurz vor der Urteilsverkündung der Süddeutschen Zeitung ein Interview gegeben hatte, in welchem das Befremden der Anwaltschaft über den Prozess deutlich geworden war.

Der Vorsitzende Richter am Landgericht Thomas Junggeburth sah es mit der Würde des ihm anvertrauten Amtes vereinbar, die Einkommensverhältnisse des gerade Freigesprochenen auszubreiten, mit dem Unterton, es sei ja menschlich irgend­wie nachvollziehbar, wenn sich ein Verteidiger angesichts der harten Wett­bewerbs­bedingungen unter Anwälten versuche, zu profilieren.

Verwirrt verließen die meisten Anwesenden nach Urteilsverkündung den Gerichts­saal. Am Tag darauf war in der Augsburger Allgemeinen Zeitung zu lesen, dass die Augsburger Staatsanwaltschaft erneut einen Strafverteidiger wegen des Verdachts der Strafvereitelung angeklagt haben soll.

Viele Strafverteidiger in ganz Deutschland beobachten die Vorgänge in Augsburg. Sie sind empört und besorgt. Einige prüfen Strafanzeigen gegen die Richter, die sich an nichts mehr erinnern konnten und gegen die Staatsanwälte, die womöglich ein entlastendes Dokument dem Gericht vorenthalten haben.

Sollte es tatsächlich zu der Einleitung von Strafverfahren gegen die beteiligten Justiz­angehörigen kommen, so wird man diesen wünschen können, dass sie qualifizierte und engagierte Strafverteidiger finden werden, die sich für ihre Rechte als Beschuldigte einsetzen.

Nachtrag: Am 11. April 2011 wurde bekannt, dass die Staatsanwaltschaft keine Revision gegen den Freispruch eingelegt hat. Das Urteil ist damit rechtskräftig und – zumindest für Rechtsanwalt Lucas – endgültig abgeschlossen.

Der Text stützt sich zum Teil auf eigene Wahrnehmungen und den Beschluss des BGH 1 StR 104/08 vom 15. April 2008. Soweit die Abläufe der Hauptverhandlung geschildert werden, wird im Wesentlichen auf den Prozessbericht Bezug genommen, den Rechtsanwalt Rolf Grabow für die Strafverteidigervereinigungen veröffentlicht hat.