Verfassungsbeschwerde zum rechtlichen Gehör bei Befangenheit von Richtern

Unter dem Aktenzeichen 2 BvR 1176/15 ist derzeit eine Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht von Rechtsanwalt Dr. Tobias Rudolph anhängig.

Ursprünglich ging es in dem Verfahren um die Durchsuchung einer Rechtsanwaltskanzlei. Hintergrund war der Verdacht der Beihilfe zur Steuerhinterziehung durch eine Rechtsanwältin.

Derartige Durchsuchungen bei Berufsträgern sind an besondere Voraussetzungen geknüpft. Denn Rechtsanwälten steht als Organen der Rechtspflege ein besonderer Schutz zu – schließlich sind auch ihre Mandanten einer staatlichen Durchsuchungsmaßnahme betroffen.

Der Fall ist jedoch noch weiter eskaliert.

Das für die Entscheidung über die Beschwerde gegen die Durchsuchung zuständige Landgericht hielt es nicht für notwendig, sich die Akten anzuschauen, bevor es über den Fall (ablehnend) entschieden hat. Dies stellt einen klaren Fall von Befangenheit dar. Denn es ist auch einem Richter unmöglich, sich ein eigenes Urteil darüber zu machen, ob überhaupt ein Fall von Steuerhinterziehung vorliegt, bevor er eine Beihilfe dazu bejaht.

Das Problem der Befangenheit in dieser Konstellation ist, dass der Beschuldigte – und auch sein Rechtsanwalt – erst davon erfahren haben, als die gerichtliche Entscheidung schon gefällt war. Durch Zufall!

Das Oberlandesgericht Hamm war angesichts dieser zeitlichen Abläufe der Auffassung, dass die Rüge der Befangenheit nach Abschluss der Entscheidung nicht mehr möglich ist. Den Umstand, dass der Beschuldigte vorher gar keine Möglichkeit hatte, die Befangenheit zu rügen – weil er ja nicht wissen konnte, wie die Richter „arbeiten“ – hielt das OLG Hamm für irrelevant. Mit der Frage, ob überhaupt eine Befangenheit vorliegt, hat sich das Oberlandesgericht Hamm in seiner Entscheidung vom 15.01.2015 (Az. 3 Ws /15) folgerichtig gar nicht erst auseinander gesetzt. Hier wollte wohl eine Krähe einer anderen Krähe kein Auge aushacken.

Gegen dies Entscheidung wurde Verfassungsbeschwerde eingelegt. Diese ist nach wie vor beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe unter dem Aktenzeichen 2 BvR 1176/15 anhängig.

Nach Auffassung von Rechtsanwalt Dr. Tobias Rudolph wirft der Fall grundlegende verfassungsrechtliche Fragen auf, über die bislang noch nicht entschieden wurde.

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Verfassungsbeschwerde steht noch aus.

Im Folgenden werden einige Auszüge aus der Verfassungsbeschwerde wiedergegeben:

Teil 1: Ursprüngliche Verfassungsbeschwerde, Az. 2 BvR 1176/15

Anmerkung: Bei der Einlegung einer Verfassungsbeschwerde gelten strenge Fristen. Andererseits kann eine solche auch erst eingelegt werden, wenn alle „möglichen und unmöglichen“ Rechtsbehelfe ausgeschöpft wurden. Aus diesem Grund ist es in der Praxis manchmal empfehlenswert, vorsorglich fristwahrend die Beschwerde in Karlsruhe einzureichen, obwohl noch nicht alle Möglichkeiten gerichtlicher Kontrolle ausgeschöpft wurden.

A. Zulässigkeit und Annahmevoraussetzungen

Die Verfassungsbeschwerde wird vorsorglich fristwahrend eingelegt, da über eine Gehörsrüge noch nicht entschieden wurde.

Mit Schriftsatz vom 0.0.2014 wurde die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 33a StPO) gerügt (Anlage 4).

In demselben Schriftsatz vom 0.0.2014 wurden darüber hinaus die drei Richter der der 1. Strafkammer des Landgerichts, der Vorsitzende Richter am Landgericht K, Richter am Landgericht K. und Richterin am Landgericht G., wegen Befangenheit abgelehnt (§ 24 II StPO) (Anlage 4).

Bislang wurde weder über die Gehörsrüge noch über die Befangenheitsanträge entschieden.

Die Entscheidungen über die Befangenheitsanträge sowie über die Gehörsrüge werden dem Bundesverfassungsgericht unverzüglich mitgeteilt werden, sobald diese bekannt sind. Es wird dann auch mitgeteilt werden, ob die Rüge der Verletzung rechtlichen Gehörs (Art. 103 I GG) bzw. die Rüge der Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 I S.2 GG) aufrecht erhalten bleibt.

Die Verfassungsbeschwerde wird bereits jetzt eingelegt, um in jedem Fall die Frist nach § 93 I BVerfGG zu wahren.

B. Überblick

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Zulässigkeit einer Durchsuchung von Wohn- und Geschäftsräumen einer Rechtsanwältin wegen des strafrechtlichen Verdachts der Beihilfe zur Steuerhinterziehung. Dabei stellen sich insbesondere folgende Fragen, deren Beantwortung über den konkreten Fall hinaus von allgemeiner verfassungsrechtlicher Bedeutung ist:

  1. Genügt es den verfassungsrechtlichen Anforderungen des Richtervorbehalts, wenn ein Landgericht im Rahmen der Beschwerde (§ 304 StPO) gegen die richterliche Anordnung einer Durchsuchung den Tatverdacht einer Beihilfe zur Umsatzsteuerhinterziehung (§§ 369, 370 I Nr. 2 AO i.V.m. § 149 AO, § 18 UStG, § 15 StGB, § 27 StGB) bejaht, ohne die Akten, aus denen sich der angebliche Tatverdacht einer Steuerhinterziehung ergibt, zu kennen?
  2. Welche verfassungsrechtlichen Anforderungen sind an die Darlegung des Tatverdachts im Rahmen einer richterlichen Durchsuchungsanordnung zu stellen, wenn eine Rechtsanwaltskanzlei aufgrund einer sogenannten berufstypischen, äußerlich neutralen Handlung beim Verdacht einer Beihilfe zur Steuerhinterziehung durchsucht werden soll?

Die Beschwerdeführerin vertritt die Auffassung, dass eine eigenständige richterliche Überprüfung der Tatbestandsvoraussetzungen des Straftatbestandes „Beihilfe zur Steuerhinterziehung“ nicht möglich ist, wenn ein Gericht nicht in der Lage ist, sich ein eigenes Bild davon zu machen, ob, aus welchem Grunde und für welchen Zeitraum ein Tatverdacht bezüglich einer Steuerhinterziehung besteht.

Darüber hinaus vertritt die Beschwerdeführerin die Auffassung, dass die Durchsuchung einer Rechtsanwaltskanzlei besonders sorgfältig abzuwägen und zu begründen ist, wenn dem Berufsträger eine Beihilfehandlung vorgeworfen wird, die sich äußerlich als berufstypisches neutrales Verhalten darstellt.

C. Sachverhalt und Verfahrensgang

Der Verfassungsbeschwerde liegt folgender Sachverhalt zu Grunde:

Die Beschwerdeführerin ist Rechtsanwältin. Sie bietet im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit Unternehmen die Möglichkeit, Zahlungen über Treuhandkonten abzuwickeln. Die Treuhandkonten werden von der Beschwerdeführerin für ihre Mandanten bei verschiedenen Banken eingerichtet und verwaltet.

Die Konten lauten auf die Namen der Beschwerdeführerin und werden bei den jeweiligen Banken in der Regel als Anderkonto geführt. Auf den Konten werden Zahlungsvorgänge der geschäftlichen Kunden abgewickelt. Die Buchungen werden in der Regel durch Kanzleimitarbeiterinnen der Beschwerdeführerin durchgeführt, welche selbst keine Rechtanwältinnen sind.

Weitergehende anwaltliche oder steuerliche Aufträge sind mit der Verwaltung der Treuhandkonten durch die Beschwerdeführerin in der Regel nicht verbunden. Insbesondere hatte sie im Zusammenhang mit dem vorliegenden Fall für den Kunden, dem eine Steuerhinterziehung vorgeworfen wird, keinen weitergehenden steuerlichen oder sonstigen anwaltlichen Auftrag. Insbesondere hatte sie keinen Einblick in dessen Buchhaltungs- und Steuerunterlagen.

Am 0.0.2014 wurden die Kanzleiräume der Rechtsanwältin durchsucht. Dies erfolgte aufgrund eines Durchsuchungsbeschlusses des Amtsgerichts vom 0.0.2014.

Die Durchsuchung am 0.0.2014 (im Folgenden: „erste Durchsuchung“) erfolgte gemäß § 103 StPO als unverdächtige Dritte, d.h. in diesem Verfahren war die Rechtsanwältin zunächst nicht selbst als Beschuldigte geführt worden.

Diese Durchsuchung erfolgte aufgrund eines Tatverdachts gegen Herrn H. Herr H ist als Unternehmer international tätig. Er ist mit seinen Firmen Kunde der Rechtsanwältin, die im Rahmen ihrer anwaltlichen Tätigkeit die entsprechenden Zahlungsvorgänge über durch sie eingerichtete Treuhandkonten abwickelt.

Im Rahmen der ersten Durchsuchung 2014 wurden Unterlagen aus der Rechtsanwaltskanzlei mitgenommen.

Der Durchsuchungsbeschluss aus dem Verfahren gegen Herrn H. wurde auf den Verdacht der Umsatzsteuerverkürzung gestützt. Dieser Durchsuchungsbeschluss ist durch Richterin am Amtsgericht K. unterschrieben worden. Bei der Durchsuchung am 0.0.2014 wurde der hier als Anlage 5 beigefügte Durchsuchungsbeschluss aus dem Verfahren gegen Herrn H. durch die Ermittlungsbehörden ausgehändigt.

Im Anschluss an die erste Durchsuchung im April 2014 kam es zu einiger Korrespondenz zwischen Rechtsanwältin und der Steuerfahndung. Dabei wurde unter anderem die Frage erörtert, ob bzw. in welchem Umfang die Rechtsanwältin zur Herausgabe von Mandantendaten, die von der Steuerfahndung angefordert worden waren, berechtigt und verpflichtet ist.

Am 0.0.2014 kam es zu der Einleitung eines eigenen Ermittlungsverfahrens wegen des Verdachts der Beihilfe durch Rechtsanwältin zur „vorsätzlichen Umsatzsteuerverkürzung“ durch Herrn H.

Im Rahmen des nunmehr gegen die Beschwerdeführerin gerichteten strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens wegen des Verdachts der Beihilfe zur (durch Herrn H. angebliche begangenen) Umsatzsteuerhinterziehung kam es aufgrund eines (weiteren) Durchsuchungsbeschlusses des Amtsgerichts vom 0.0.2014  am 0.0.2014 zu einer weiteren Durchsuchung in den Geschäftsräumen der Beschuldigten.

Im Rahmen dieser Durchsuchung im August 2014 (im Folgenden: „zweite Durchsuchung“) wurden weitere Unterlagen aus der Kanzlei der Rechtsanwältin mitgenommen.

Mit Schriftsatz vom 0.0.2014 an das Amtsgericht (Anlage 6) zeigte sich Rechtsanwalt Dr. Tobias Rudolph als Verteidiger der Beschuldigten an und legte gegen den Beschluss des Amtsgerichts vom 0.0.2014 (Anlage 2) Beschwerde ein. Gleichzeitig wurde Aussetzung der Vollziehung gemäß § 307 II StPO beantragt.

Mit Schreiben vom selben Tag an die Steuerfahndung wandte sich der Rechtsanwalt an die Steuerfahndung und beantragte Akteneinsicht.

Die Akte wurde dem Verteidiger am 0.0.2014 übermittelt. Die Ermittlungsakte, wie sie dem Verteidiger zur Verfügung gestellt wurde, wird in der Anlage als Anlage 8 vorgelegt. Sie umfasste im August 2014 45 Seiten. Bis heute liegen dem Verteidiger keine weiteren Akten oder Informationen vor, aus denen sich der gegen die Beschwerdeführerin gerichtete Tatverdacht ergeben soll – von dem Beschluss aus dem Verfahren gegen Herrn H. (Anlage 5), welcher im Rahmen der ersten Durchsuchung im April 2014 ausgehändigt worden war, abgesehen.

Mit Beschluss vom 0.0.2014 entschied das Amtsgericht der Beschwerde gegen die Durchsuchung nicht abzuhelfen; Der Antrag auf Aussetzung der Vollziehung wurde abgelehnt (Anlage 9).

Mit Schriftsatz vom 0.0.2014 an das Landgericht wurde die Beschwerde ausführlich begründet. Der Schriftsatz wird vorliegend als Anlage 10 mit den jeweiligen Unteranlagen (hier als Unteranlagen 10a) bis i) bezeichnet) vorgelegt.

Mit Beschluss vom 0.0.2014 (Anlage 3), zugegangen am 0.0.2014, wurde die Beschwerde verworfen und der Antrag auf Aussetzung der Vollziehung abgelehnt.

Daraufhin wurde mit weiterem Schriftsatz an das Amtsgericht vom 0.0.2014 (Anlage 11) richterliche Entscheidung gemäß § 98 II 2 StPO beantragt, mit dem Antrag festzustellen, dass die im Rahmen der Durchsuchung am 0.0.2014 erfolgte Beschlagnahme der Kanzleiunterlagen rechtswidrig war.

Diesbezüglich gibt es bis heute noch keine Entscheidung.

Mit weiterem Schreiben vom 0.0.2014 an das Landgericht (Anlage 12) wurde das Landgericht zur Vorbereitung und Begründung der Gehörsrüge u.a. um die Beantwortung folgender Fragen gebeten:

  1. Gibt es Stellungnahmen zu der Beschwerdebegründung durch Rechtsanwalt Dr. Tobias Rudolph vom 0.0.2014 von Seiten der Steuerfahndung oder anderer Beteiligter? Der Verteidigung ist lediglich der Nichtabhilfebeschluss des Amtsgerichts vom 0.0.2014 bekannt.
  2. Lagen dem Landgericht bei Erlass des Beschlusses vom 0.0.2014 die Ermittlungsakten oder sonstige Erkenntnisse aus dem Verfahren gegen Herrn H. (Steuerfahndungsstelle Finanzamt für Steuerstrafsachen und Steuerfahndung) vor, aus denen sich der angebliche Tatverdacht gegen Herrn Hans-Jürgen H. ergibt?

Auf dieses Schreiben erfolgte bis heute keine Antwort.

Mit Schreiben vom 0.0.2014 an die Steuerfahndung wurden die beiden Schreiben vom 0.0.2014 (Anlage 11 und 12) an die Steuerfahndung zur Kenntnisnahme übersandt (Anlage 13).

Am 0.0.2014 rief Herr X von der Steuerfahndung an und teilte mit, dass Akteneinsicht derzeit nicht möglich sei (vgl. Aktenvermerk Anlage 14).

Mit Schreiben vom 0.0.2014 an das Landgericht teilte der Verteidiger dem Landgericht mit, dass er derzeit davon ausgehe, dass dem Landgericht bei Erlass des Beschluss vom 0.0.2014 (hier Anlage 3) dem Gericht die Ermittlungsakten oder weitere Erkenntnisse aus dem Verfahren gegen Herrn H., aus dem sich der angebliche Tatverdacht gegen Herrn H. ergibt, nicht vorlagen (Anlage 15). Dieses Schreiben wurde mit Schreiben vom 0.0.2014 der Steuerfahndung zur Kenntnis gegeben (Anlage 16). Am 0.0.2014 kam es zu einem Telefonat des Verteidigers mit Herrn X von der Steuerfahndung, in dem unter anderem darüber gesprochen wurde, dass sich aus der aktuell bei der Steuerfahndung geführten strafrechtlichen Ermittlungsakte gegen die Beschwerdeführerin keine wesentlichen neuen Erkenntnisse seit der zuletzt gewährten Akteneinsicht an den Verteidiger ergeben (vgl. Aktenvermerk Anlage 17).

Mit Schriftsatz vom 0.0.2014 (Anlage 4) wurde die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör gerügt sowie die drei Richter der Strafkammer des Landgerichts wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt.

Auf die Gehörsrüge bzw. den Befangenheitsantrag erfolgte bis heute keine Reaktion.

Mit Schreiben vom heutigen Tage wurde dem LG die vorliegende Verfassungsbeschwerde zur Kenntnis gegeben (Anlage 18).

D. Strafrechtliche Hintergründe

Der Straftatbestand einer Beihilfe zur Steuerhinterziehung setzt gemäß § 27 StGB i.V.m. § 370 AO zumindest die Erfüllung folgender Tatbestandsmerkmale kumulativ voraus:

  • Vorsätzliche und rechtswidrige Haupttat durch den Haupttäter
  • Objektive Beihilfe-Handlung
  • Doppelter Gehilfen-Vorsatz

Vorliegend war es weder der Beschwerdeführerin noch dem Verteidiger bislang möglich, zu dem Tatbestandsmerkmal „vorsätzliche und rechtswidrige Haupttat“ Stellung zu nehmen, da keine Akten aus dem Verfahren gegen Herrn H. vorgelegt wurden.

Darüber hinaus erschließt sich der Beschwerdeführerin nicht, welche Handlungen ihr zur Last gelegt werden, die den angeblichen Verdacht der objektiven Beihilfe-Handlung begründen.

Soweit in dem gegen sie gerichteten Durchsuchungsbeschluss vom 0.0.2014 (vgl. Anlage 2) vom „…“ die Rede ist, konnte der Verdacht widerlegt werden.

Soweit in dem Durchsuchungsbeschluss von „…“ durch Herrn H. die Rede ist, erschließt sich mangels Kenntnis des Verfahrens gegen Herrn H. nicht, worin diese bestehen soll und durch welche Handlung von Frau X dazu konkret Hilfe geleistet worden sein soll.

Aus dem Durchsuchungsbeschluss aus dem Verfahren H. 0.0.2014 (Anlage 5) – der dem Landgericht bei der Beschwerdeentscheidung nicht vorlag – ergibt sich, dass Herrn H. ein Unterlassen vorgeworden werden soll. Denn es wird Bezug genommen auf § 370 I Nr 2 AO. Hierbei handelt es sich um ein sogenanntes echtes Unterlassungsdelikt, das erfüllt ist, wenn der Steuerpflichtige die Finanzbehörden über steuerlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis setzt (vgl. dazu Jäger in Klein: Kommentar zur AO, § 370, Rn. 60).

Dass die Ermittlungsbehörden bezüglich der Haupttat ein Unterlassen annehmen folgt auch aus dem Durchsuchungsbeschluss aus dem Verfahren gegen die Beschuldigte vom 0.0.2014 (Anlage 2), in dem u.a. auf „370 Absatz 1 Nr. 2 in Verbindung mit § 149 AO, § 18 UStG“ AO Bezug genommen wird. Insbesondere aus der Bezugnahme auf § 140 AO bzw. § 18 UStG erschließt sich, dass dem vermeintlichen Haupttäter offenbar vorgeworfen wird, seiner Pflicht zur Abgabe von Umsatzsteuererklärungen nicht nachgekommen zu sein.

Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass Rechtsanwältin durch Unterlassen eine Beihilfe zur Unterlassungs-Haupttat begangen haben soll. Dies würde strafrechtlich eine eigene Pflicht der Rechtsanwältin im Hinblick auf die steuerlichen Pflichten des Herrn H. voraussetzen. Eine solche besteht nicht, da Rechtsanwältin über kein steuerliches Mandat für Herrn H. verfügt. Eine eigene steuerliche Pflicht der Beschwerdeführerin wird auch weder in der Akte noch in den angegriffenen Beschlüssen behauptet.

Die Frage, inwieweit in einem (vermeintliche) aktiven Tun durch Rechtsanwältin (=z.B. Einrichten oder Verwalten von Treuhandkonten) die Förderung eines Unterlassungsdelikts (=Nichtabgabe von Umsatzsteuererklärungen durch Herrn H.) gesehen werden kann, ist strafrechts-dogmatisch umstritten. Als typische Beispiele für eine derartige Konstellation werden sogenannte „psychische Beihilfehandlungen“ diskutiert (vgl. dazu Weigend, in LK-StGB12, § 13, Rn. 86, m.w.N.). Eine solche Konstellation wäre beispielsweise denkbar bei der psychischen Bestärkung des Unterlassungstäters in dessen Entschluss, untätig zu bleiben. Hierzu finden sich weder in der Akte noch in den angegriffenen Beschlüssen Hinweise.

Im Übrigen wäre äußerst fraglich, ob derartige psychische Unterstützungshandlungen den rechtlichen Anforderungen der Beihilfe-Strafbarkeit bei sogenanntem berufsneutralem Verhalten erfüllen. Diese wurden zuletzt in einer Entscheidung des BGH vom 21.08.2014 (1 StR 13/14) wie folgt dargestellt:

„Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu den sogenannten berufstypischen, äußerlich neutralen Handlungen (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 22. Januar 2014 – 5 StR 468/12; Beschluss vom 20. September 1999 – 5 StR 729/98, BGHR StGB § 27 Abs. 1 Hilfeleisten 20; BGH, Urteil vom 1. August 2000 – 5 StR 624/99, BGHSt 46, 107, 112 ff.; Schünemann in LK-StGB, 12. Aufl., § 27 Rn. 17 f.) ist wie folgt zu differenzieren:

Zielt das Handeln des Haupttäters ausschließlich darauf ab, eine strafbare Handlung zu begehen, und weiß dies der Hilfeleistende, so ist sein Tatbeitrag als Beihilfehandlung zu werten. In diesem Fall verliert sein Tun stets den „Alltagscharakter“; es ist als „Solidarisierung“ mit dem Täter zu deuten und dann auch nicht mehr als sozialadäquat anzusehen (sog. deliktischer Sinnbezug, vgl. hierzu BGH, Urteil vom 22. Januar 2014 – 5 StR 468/12; Schünemann in LK-StGB, 12. Aufl., § 27 Rn. 17 f.). Weiß der Hilfeleistende dagegen nicht, wie der von ihm geleistete Beitrag vom Haupttäter verwendet wird, hält er es lediglich für möglich, dass sein Tun zur Begehung einer Straftat genutzt wird, so ist sein Handeln regelmäßig noch nicht als strafbare Beihilfehandlung zu beurteilen, es sei denn, das von ihm erkannte Risiko strafbaren Verhaltens des von ihm Unterstützten war derart hoch, dass er sich mit seiner Hilfeleistung die Förderung eines erkennbar tatgeneigten Täters angelegen sein ließ (BGH, Beschluss vom 20. September 1999 – 5 StR 729/98, BGHR StGB § 27 Abs. 1 Hilfeleisten 20; BGH, Urteil vom 1. August 2000 – 5 StR 624/99, BGHSt 46, 107, 112 ff.; Schünemann in LK-StGB, 12. Aufl., § 27 Rn. 19).“

Anhaltspunkte dafür, dass das Verhalten des Herrn H. „ausschließlich darauf abziele“, strafbare Handlungen zu begehen, finden sich in dem Strafverfahren nicht.

Es kann dahinstehen, ob aus der Tatsache, dass gegen Herrn H. strafrechtlich ermittelt wird, geschlossen werden kann, dass es sich bei diesem um einen „tatgeneigten Täter“ handelte.

Denn Anhaltspunkte dafür, dass die Beschwerdeführerin vor der Durchsuchung im April 2014 wusste, dass Herr H. keine (oder unvollständige) Umsatzsteuererklärungen abgegeben haben soll, finden sich in der Akte nicht und werden auch nicht behauptet.

Es ist der Beschwerdeführerin auch nichts darüber bekannt, ob, für welche Firmen, in welcher Höhe und in welchem Umfang Herr H. nach April 2014 Umsatzsteuererklärungen eingereicht hat.

Unter keinem denkbaren Gesichtspunkt ist daher ein strafbares Verhalten ersichtlich.

Etwas anderes folgt auch nicht daraus, dass in dem Durchsuchungsbeschluss vom 0.0.2014 (Anlage 2) davon die Rede ist, die Beschwerdeführerin habe Herrn H. „bei seinen Vorbereitungshandlungen zur andauernden Umsatzsteuerhinterziehungen“ Beihilfe geleistet.

Zwar ist es für die Strafbarkeit einer Beihilfe zur Steuerhinterziehung grundsätzlich ausreichend, wenn ein Gehilfe die Haupttat im Vorbereitungsstadium fördert (vgl. dazu Jäger, in Klein: Kommentar zur AO, § 370, Rn. 217). Voraussetzung dafür ist jedoch, dass die Teilnahmehandlung mit dem Willen und dem Bewusstsein geleistet wird, eine potenzielle Haupttat zu fördern (vgl. dazu BGHSt 46, S. 107, m.w.N.). Für einen solchen spezifischen Vorsatz fehlt es hier an Anhaltspunkten. Unabhängig davon wäre eine konstitutive Strafbarkeitsvoraussetzung einer Beihilfe im Vorbereitungsstadium, dass die Haupttat selbst bereits in das Stadium des strafbaren Versuchs gelangt ist (vgl. Jäger, a.a.O.; BGH wistra 1986, S. 26; 1992, S. 299).

Es ist nicht bekannt, ob bzw. in welchem Umfang Herr H. zwischen April 2014 und August 2014 monatliche Umsatzsteuervoranmeldungen eingereicht hat. Es ist auch nicht bekannt, in welchem Umfang er diesbezüglich verpflichtet war. Sicher ist jedoch, dass Rechtsanwältin über die umsatzsteuerlichen Verhältnisse des Herrn H. nicht informiert war und auch kein entsprechendes Mandat zur Prüfung oder Betreuung dessen Umsatzsteuerangelegenheiten hatte.

Ausgeschlossen werden kann, dass die Haupttat in einer Abgabe einer unrichtigen oder unvollständigen Umsatzsteuerjahreserklärung für 2014 durch Herrn H. lag bzw. in dem Unterlassen einer solchen Erklärung. Die Umsatzsteuerjahreserklärung ist frühestens mit Ablauf des Kalenderjahres einzureichen (vgl. § 149 AO – regelmäßig zum 31. Mai des Folgejahres) und zwar in elektronischer Form (vgl. § 18 III UStG, § 28 XVII UStG).

E. Verteidigerschriftsätze

Die beiden Verteidigerschriftsätze vom 0.0.2014 (Anlage 10) sowie vom 0.0.2014 (=Gehörsrüge und Befangenheitsantrag, Anlage 4), in denen der Inhalt der strafrechtlichen Ermittlungsakte und die strafprozessualen Rahmenbedingungen im Detail erörtert werden, werden im Folgenden inhaltlich wiedergegeben.

(Wiedergabe Schriftsätze aus dem Strafverfahren)

F. Grundrechtsverstöße

I. Art. 13 GG – Unverletzlichkeit der Wohnung

1. Rechtlicher Maßstab

Das Bundesverfassungsgericht führte u.a. in der Entscheidung vom 13.03.2014 (2 BvR 974/12) aus:

„Mit der Garantie der Unverletzlichkeit der Wohnung durch Art. 13 Abs. 1 GG erfährt die räumliche Lebenssphäre des Einzelnen einen besonderen grundrechtlichen Schutz, in den mit einer Durchsuchung schwerwiegend eingegriffen wird (vgl. BVerfGE 42, 212 [219 f.]; 96, 27 [40]; 103, 142 [150 f.]). Erforderlich zur Rechtfertigung eines Eingriffs in die Unverletzlichkeit der Wohnung zum Zwecke der Strafverfolgung ist daher der Verdacht, dass eine Straftat begangen wurde.

Dieser Verdacht muss auf konkreten Tatsachen beruhen; vage Anhaltspunkte und bloße Vermutungen reichen nicht aus (vgl. BVerfGE 44, 353 [371 f.]; 115, 166 [197 f.]). Eine Durchsuchung darf nicht der Ermittlung von Tatsachen dienen, die zur Begründung eines Verdachts erforderlich sind; denn sie setzen einen Verdacht bereits voraus (vgl. BVerfGK 8, 332 [336]; 11, 88 [92]; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 26. Oktober 2011 – 2 BvR 15/11 -, juris, Rn. 14). Notwendig ist, dass ein auf konkrete Tatsachen gestütztes, dem Beschwerdeführer angelastetes Verhalten geschildert wird, das den Tatbestand eines Strafgesetzes erfüllt (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 26. Oktober 2011 – 2 BvR 1774/10 -, juris, Rn. 25). Ein Verstoß gegen diese Anforderungen liegt vor, wenn sich sachlich zureichende plausible Gründe für eine Durchsuchung nicht mehr finden lassen (vgl. BVerfGE 59, 95 [97]).

Der für die vorherige Gestattung des mit der Durchsuchung verbundenen Eingriffs in die Unverletzlichkeit der Wohnung oder dessen nachträgliche Kontrolle zuständige Richter hat den Verdacht eigenverantwortlich zu prüfen und dabei die Interessen des Betroffenen angemessen zu berücksichtigen (vgl. BVerfG 103, 142 [151]). Ein Eingreifen des Bundesverfassungsgerichts ist nur geboten, wenn die Auslegung und Anwendung der einfach-rechtlichen Bestimmungen über die prozessualen Voraussetzungen des Verdachts (§ 152 Abs. 2, § 160 Abs. 1 StPO) als Anlass für die strafprozessuale Zwangsmaßnahme und die strafrechtliche Bewertung der Verdachtsgründe objektiv willkürlich sind oder Fehler erkennen lassen, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung der Grundrechte des Betroffenen beruhen (vgl. BVerfGE 18, 85 [92 ff.]). Eine ins Einzelne gehende Nachprüfung des von den Fachgerichten angenommenen Verdachts ist nicht Sache des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfGE 95, 96 [128]; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 20. April 2004 – 2 BvR 2043/03, 2 BvR 2104/03 -, juris, Rn. 5).“

Der besondere Schutz von Berufsgeheimnisträgern (§ 53 StPO) gebietet darüber hinaus bei der Anordnung der Durchsuchung einer Rechtsanwaltskanzlei die besonders sorgfältige Beachtung der Eingriffsvoraussetzungen und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit.

Die Durchsuchung bedarf vor allem einer Rechtfertigung nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Sie muss im Blick auf den bei der Anordnung verfolgten gesetzlichen Zweck erfolgversprechend sein. Ferner muss gerade diese Zwangsmaßnahme zur Ermittlung und Verfolgung der Straftat erforderlich sein. Schließlich muss der jeweilige Eingriff in angemessenem Verhältnis zu der Schwere der Straftat und der Stärke des Tatverdachts stehen (vgl. BVerfGE 42, 212 [220]).

Der Richter darf die Durchsuchung nur anordnen, wenn er sich aufgrund eigenverantwortlicher Prüfung der Ermittlungen überzeugt hat, dass die Maßnahme verhältnismäßig ist (vgl. BVerfGE 96, 44 [51]).

2. Verletzung des Grundrechts

Diesen Maßstäben genügen die angegriffenen Beschlüsse nicht.

Das Landgericht ist diesen Maßstäben schon deshalb nicht gerecht geworden, da es über die vermeintliche Haupttat mangels Aktenkenntnis kein eigenes Wissen hatte.

Auch das Amtsgericht ist diesen Maßstäben nicht gerecht geworden, da es an Anhaltspunkten sowohl für eine Haupttat als auch für eine strafrechtlich relevante Beihilfehandlung dafür durch die Beschwerdeführerin fehlt.

II. Art. 103 I GG – Verletzung rechtlichen Gehörs

1. Rechtlicher Maßstab

Das Bundesverfassungsgericht führte in seiner Entscheidung vom 09.09.2013 (2 BvR 533/13) aus:

„Das Grundgesetz sichert das rechtliche Gehör im gerichtlichen Verfahren durch Art. 103 Abs. 1 GG. Es sichert den Beteiligten ein Recht auf Information, Äußerung und Berücksichtigung mit der Folge, dass sie ihr Verhalten im Prozess selbstbestimmt und situationsspezifisch gestalten können. Art. 103 Abs. 1 GG steht in einem funktionalen Zusammenhang mit der Rechtsschutzgarantie des Grundgesetzes (vgl. BVerfGE 81, 123 [129]). Dem kommt besondere Bedeutung zu, wenn im strafprozessualen Ermittlungsverfahren Eingriffsmaßnahmen ohne vorherige Anhörung des Betroffenen gerichtlich angeordnet werden (§ 33 Abs. 4 StPO). Dann ist das rechtliche Gehör jedenfalls im Beschwerdeverfahren nachträglich zu gewähren (vgl. BVerfGK 3, 197 [204]; 7, 205 [211]; 10, 7 [9]).“

2. Konkreter Verstoß

Da bislang keine Akteneinsicht in die Strafakte H. gewährt wurde, ist bislang rechtliches Gehör zu dem Tatvorwurf der Haupttat nicht gewährt worden.

Im Übrigen wird auf die Ausführungen in den oben wiedergegebenen Schriftsätzen vom 17.09.2014 (Anlage 10) sowie vom 30.10.2014 (Anlage 4)verwiesen.

Weitere Ausführungen bleiben vorbehalten, sobald durch das Landgericht über die Gehörsrüge entschieden wurde.

III. Art. 12 I GG – Berufsfreiheit

Die besonderen Anforderungen an die Durchsuchung bei Berufsgeheimnisträgern, die sich aus der Berufsfreiheit einer Rechtsanwältin ergeben, wurden missachtet.

Darüber hinaus ist auch die restriktive Auslegung der Beihilfe-Strafbarkeit bei berufstypischen neutralen Handlungen, die durch die Strafgerichte missachtet wurde, Ausfluss der Berufsfreiheit.

IV. Art. 101 I 2 GG – Gesetzlicher Richter

Es wird auf den Schriftsatz vom 0.0.2014 verwiesen (Befangenheitsantrag und Gehörsrüge = Anlage 4). Nähere Ausführungen bleiben vorbehalten, sobald feststeht, ob diesem Antrag stattgegeben wurde.

Dr. Tobias Rudolph

Rechtsanwalt

Teil 2: Weitere Begründung der Verfassungsbeschwerde durch RA Dr. Tobias Rudolph

Überblick

Unter A. wird im Folgenden der Gang des Verfahrens seit Einlegung der Verfassungsbeschwerde geschildert.

Unter B. wird der Verfassungsverstoß gegen Art. 103 I GG im Verfahren über die Ablehnung des Befangenheitsantrags dargelegt („neue Anhörungsrüge“). Dieser Komplex wirft insbesondere folgende zusätzliche verfassungsrechtliche Frage von grundsätzlicher Bedeutung auf:

  • Welche verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen gibt Art. 103 I GG bei der Abgrenzung einer Gehörsrüge gemäß § 33a StPO von einer (gesetzlich nicht geregelten) Gegenvorstellung?
  • Welche rechtsstaatlichen Anforderungen sind an Verfahren, die eine richterliche Selbstkorrektur ermöglichen, zu stellen?
  • Ist es insbesondere verfassungsrechtlich geboten, im Verfahren einer Anhörungsrüge nach § 33a StPO und/oder im Verfahren einer Gegenvorstellung die Möglichkeit zu eröffnen, Richter, wegen der Besorgnis der Befangenheit abzulehnen?

Mit anderen Worten: Ist ein (potenziell) befangener Richter dazu berufen, sich selbst zu korrigieren oder hat der Rechtssuchende einen Anspruch darauf, dass ein unbefangener Richter einen Verstoß gegen das Gebot rechtlichen Gehörs heilt?

Unter C. wird der Verfassungsverstoß gegen Art. 101 I GG im Verfahren über die Ablehnung des Befangenheitsantrags dargelegt. Dieser Komplex wirft insbesondere folgende verfassungsrechtliche Fragen von grundsätzlicher Bedeutung auf:

  • Besteht die Besorgnis der Befangenheit eines Richters, der in einer Entscheidung den Anschein erweckt, er habe einen Sachverhalt in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht gewürdigt, obwohl ihm dies mangels Aktenkenntnis nicht möglich war?

A. Gang des Verfahrens seit Einlegung der Verfassungsbeschwerde

(…Schilderung des bisherigen Strafverfahrens…)

Am 15.01.2015 (zugegangen am 05.02.2015) verwarf das OLG Hamm die sofortige Beschwerde als unbegründet (Anlage 6). In dem Beschluss vertritt das OLG die Auffassung, das Ablehnungsgesuch sei gemäß § 26a I Nr. 1 StPO unzulässig, da es sich gegen einen Beschluss richte, der bereits ergangen sei. Daran ändere auch der mit demselben Schriftsatz (vom 0.0.2014 = Anlage 4 der VB vom 0.0.2014) gleichzeitig gestellte Antrag auf Nachholung rechtlichen Gehörs nichts. Zur Begründung führt das OLG aus:

  • es handele sich bei dem Schriftsatz vom 0.0.2014 letztlich um eine Gegenvorstellung. Denn letztlich werde nur gerügt, die Entscheidung sei falsch. Eine solche Rüge sei jedoch im Rahmen eines Antrags auf Nachholung des rechtlichen Gehörs unzulässig;
  • es sei verfassungsrechtlich nicht geboten, dass ein Gericht jedes Vorbringen eines Beteiligten in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu bescheiden habe;
  • selbst wenn es sich bei der Eingabe vom 0.0.2014 um eine Anhörungsrüge handeln würde, wäre das Ablehnungsgesuch unzulässig, da im vorliegenden Fall der Antrag auf Nachholung des rechtlichen Gehörs unbegründet sei.

Das OLG setzt sich mit der strafprozessualen Kommentarliteratur auseinander, in der – nach Auffassung der Richter aus Hamm – „undifferenziert“ vertreten werde, dass ein Beteiligter die Ablehnung auch für die Entscheidung nach § 33a StPO erklären könne (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, Kommentar zur StPO, § 25, Ran. 11; KK-StPO/Scheuten, § 25, Ran. 12; SK-StPO/Deiters, § 25, Rn. 7; LR/Siolek, § 25, Rn. 13).

Gleichwohl führt das OLG Hamm in dem Beschluss aus:

„Andererseits hält auch der Senat ein mit einem Ablehnungsantrag verbundenes Ablehnungsgesuch in den Fällen für zulässig, in denen das Gericht das Verfahren durch Beschluss in die Lage versetzt, die vor der Entscheidung bestand, die Anhörungsrüge demnach begründet ist. Denn auf diese Weise ist gewährleistet, dass in den Fällen, in denen es tatsächlich zu einem Verfahren kommt, in dem das rechtliche Gehör nachzuholen ist, ein Richter, der an der bereits getroffenen Entscheidung mitgewirkt hat und nunmehr darüber zu entscheiden hat, ob diese zu korrigieren ist, abgelehnt werden kann.“;

  • nach diesem Maßstab sei inzidenter die subsidiär angenommene Anhörungsrüge zu prüfen, diese sei jedoch im Ergebnis unbegründet. Denn die Richter des LG hätten bei ihrer Entscheidung vom 0.0.2014 den Schriftsatz der Beschuldigten vom 0.0.2014 berücksichtigt und sich mit den darin enthaltenen Ausführungen auseinandergesetzt. Es sei weder ersichtlich noch würde in der Beschwerdebegründung dargelegt, „dass die Kammer bei ihrer Entscheidung Tatsachen oder Beweismittel verwertet hat, zu denen die Beschuldigte zuvor nicht gehört worden ist.“

Mit Schriftsatz des Verteidigers vom 0.0.2015 (Anlage 7) wurde erneut eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 33a StPO) gerügt. Zur Begründung wird in diesem Schriftsatz ausgeführt:

„Das Oberlandesgericht Hamm geht in dem Beschluss vom 15.01.2015 davon aus „dass die Kammer den Schriftsatz der Beschuldigten vom September 2014 berücksichtigt und sich mit den darin enthaltenen Ausführungen auseinandergesetzt hat.“ (vgl. Seite 6 f. der Entscheidung des OLG Hamm vom 15.01.2015). Sicher ist indes, dass die abgelehnten Richter des Landgerichts mit dem Tatverdacht hinsichtlich der angeblichen Haupttat der Steuerhinterziehung nicht auseinandergesetzt haben. Denn sie konnten sich damit überhaupt nicht auseinandersetzen. Bei dem Beschluss des LG handelte es sich damit um eine „Schein-Entscheidung“. Denn es wurde der bloße Anschein der Prüfung eines Tatverdachts erweckt, obwohl dies objektiv gesehen gar nicht möglich war.

Das Oberlandesgericht Hamm setzt sich in dem hier angegriffenen Beschluss vom 15.01.2015 über die sofortige Beschwerde mit keinem Wort damit auseinander, dass den abgelehnten Richtern des Landgerichts die Verfahrensakte aus dem Verfahren gegen den vermeintlichen Haupttäter H. nicht vorlagen – genauso wenig wie der Beschwerdeführerin und der Verteidigung.

Damit verfehlt der Beschluss des OLG Hamm die Kernfrage, um die es im vorliegenden Fall geht: Welche Rechte stehen einem Bürger zu, wenn ein Gericht den Anschein erweckt, es habe sich mit einem Gesichtspunkt auseinandergesetzt (die Richter des LG bejahten den Tatverdacht einer Steuerhinterziehung!), obwohl dies weder den Richtern noch der Verteidigung möglich war.

Die Verteidigung geht nach dem Beschluss des Oberlandesgerichts Hamm vom 15.01.2015 davon aus, dass den Richtern des 3. Strafsenats des Oberlandesgerichts Hamm die Ermittlungsakten aus dem steuerstrafrechtlichen Ermittlungsverfahren gegen den vermeintlichen Haupttäter Herrn H. nicht vorlagen.

Der Verteidigung ist nicht bekannt, inwieweit der Beschluss des Landgerichts in der Endfassung vom 0.0.2014 sich inhaltlich von der Entwurfsfassung, die am 0.0.2014 bei der Geschäftsstelle gelegen haben soll, unterscheidet. Darauf kommt es jedoch auch nicht an. Denn weder bei der Verfassung des Entwurfs vom 0.0.2014 noch bei der Verfassung des Beschlusses vom 0.0.2014 lagen den abgelehnten Richtern der Wirtschaftsstrafkammer des LG die notwendigen Informationen vor, die sie benötigt hätten, um den Tatverdacht einer Steuerhinterziehung durch den vermeintlichen Haupttäter Herrn H. zu prüfen.

Es wurde durch die Verteidigung mehrfach Akteneinsicht beantragt und darauf hingewiesen, dass eine Stellungnahme zu dem mutmaßlichen Verdacht einer Haupttat nur mit Aktenkenntnis möglich ist.

Zutreffend ist zwar, dass durch die Beschwerdeführerin bzw. der Verteidigung zu der Frage, ob ein ausreichend konkretisierter Tatverdacht hinsichtlich der behaupteten Haupttat einer Steuerhinterziehung vorliegt, noch nicht Stellung genommen wurde.

Anders als der Verteidigung, die, um Akteneinsicht zu erhalten, auf die Mitwirkung der zuständigen Stellen angewiesen ist, wäre es dem Landgericht in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht leicht möglich gewesen, die Verfahrensakte aus dem Verfahren gegen Herrn H. anzufordern und auf diese Weise in den Stand versetzt zu werden, den Tatverdacht der Haupttat zu überprüfen. Dies wurde unterlassen. Es wurde nicht einmal versucht, den Anschein einer sorgfältigen richterlichen Prüfung zu erwecken.

Bei dieser Sachlage konnte von Seiten der Beschwerdeführerin bzw. der Verteidigung zu dem Tatverdacht der Haupttat nichts Substantielles vorgetragen werden. Dieser Umstand liegt jedoch nicht im Verantwortungsbereich der Beschwerdeführerin oder der Verteidigung.

Es gehört zum unbestreitbaren Kern dessen, was mit einer Anhörungsrüge gemäß § 33a StPO vorgebracht werden kann, dass der Bürger die Möglichkeit haben muss, bloße „Schein-Entscheidungen“ als solche zu benennen und das Gericht zur Selbstkorrektur aufzufordern.

Der Verstoß gegen den Grundsatz rechtlichen Gehörs ist in denjenigen Fällen, bei denen dem Bürger die Möglichkeit zum Rechts- und Tatsachenvorbringen genommen wird, schlimmer, als wenn dessen tatsächliches Vorbringen komplett ignoriert wird.

Jede andere Ansicht würde der Logik eines Wissenschaftlers gleichen, der das Sprungvermögen eines Froschs testen will und zu diesem Zweck ihm ein Bein nach dem anderen ausreißt:

Von den vier vorhandenen Froschschenkeln wird einer nach dem anderen entfernt, worauf der Wissenschaftler zu dem Frosch sagt: „Spring!“. Nach der Amputation jedes weiteren Beines misst der Wissenschaftler die Entfernung, die der Frosch mit der ihm verbleibenden Sprungkraft noch zurücklegen kann.

Nachdem das vierte Bein entfernt wurde springt der Frosch überhaupt nicht mehr.

Der Wissenschaftler notiert in sein Notizbuch: „Der Frosch hat das Gehör verloren.“

In ähnlicher Weise konstatiert das Oberlandesgericht Hamm hier: Der Bürger hat das Gehör verloren!

Anders ausgedrückt:

  • Der Beschwerdeführerin wird die Möglichkeit genommen, sich zu dem Tatverdacht hinsichtlich einer Haupttat zu äußern.
  • Der Beschwerdeführerin wird gesagt: Wenn du dich nicht dazu äußerst, dann müssen wir uns damit auch nicht auseinander setzen.

Besonders absurd an dieser Logik ist, dass das Landgericht nicht einmal behauptet, dass es auf die Haupttat (bzw. den entsprechenden Tatverdacht) nicht ankäme. Vielmehr erweckt es den Anschein einer richterlichen Prüfung, zu der es objektiv gar nicht in der Lage war.

Wenn – wie hier – ein Gericht so tut, als hätte es sich mit einem Tatverdacht auseinandergesetzt, obwohl ihm dies gar nicht möglich war, muss es im Rahmen der Gehörsrüge möglich sein, darauf hinzuweisen. Es handelt sich um den denkbar schlimmsten Fall richterlicher Ignoranz. Für diesen Fall muss es die Möglichkeit der Selbstkorrektur geben – und zwar in dem formalisierten Verfahren nach § 33a StPO.

Dazu, dass das Verfahren der richterlichen Selbstkorrektur auch an rechtsstaatlichen Maßstäben – und damit am gesetzlichen Richter – zu messen ist, wird auf den Schriftsatz vom 0.0.2014 verwiesen.“

B. Verstoß gegen Art. 103 I GG im Befangenheits-Verfahren („neue Anhörungsrüge“)

Es liegt ein Verstoß gegen Art. 103 I GG vor, da sich die Gerichte zu der Frage der Besorgnis der Befangenheit überhaupt nicht geäußert haben, obwohl dazu Anlass bestand.

Die Gründe, mit denen die Gerichte den Befangenheitsantrag als unzulässig zurück gewiesen haben, halten einer verfassungsrechtlichen Überprüfung nicht stand. Hätten die Gerichte Bedeutung und Tragweite des verfassungsrechtlichen Gebots rechtlichen Gehörs beachtet, so hätten sie zur Frage der Befangenheit Stellung nehmen und den Befangenheitsanträgen stattgeben müssen.

I. Mussten sich das LG bzw. das OLG zur Frage der Besorgnis der Befangenheit äußern?

Gegenstand der „neuen“ Anhörungsrüge, die mit Schriftsatz vom 0.0.2015 (Anlage 7) gegen den Beschluss des OLG Hamm vom 0.0.2015 (Anlage 6) eingelegt wurde, ist der Umstand, dass das Oberlandesgericht sich im Verfahren der sofortigen Beschwerde inhaltlich nicht dazu geäußert hat, ob die abgelehnten Richter des Landgerichts tatsächlich den Anschein der Befangenheit erweckt haben. Eine inhaltliche Stellungnahme zu der Befangenheitsthematik wurde unter Verweis auf formale Vorschriften vollständig vermieden.

Die Beschwerdeführerin vertritt die Auffassung, dass es nicht nur einfach-rechtlich, sondern auch verfassungsrechtlich geboten ist, in der vorliegenden Konstellation zumindest die Möglichkeit der Rüge der Besorgnis der Befangenheit zu gewähren.

Die Gründe, die das Landgericht und das Oberlandesgericht angegeben haben, weshalb die Rüge der Befangenheit im vorliegenden Verfahren unzulässig sei, lassen sich wie folgt zusammenfassen:

  1. In Wirklichkeit handele es sich bei dem Schriftsatz vom 0.0.2014 (= Anlage 4 der Verfassungsbeschwerde 0.0.2014) um eine Gegenvorstellung;
  2. im Verfahren der Gegenvorstellung sei die Rüge der Befangenheit nicht zulässig;
  3. selbst wenn es sich um eine Anhörungsrüge gehandelt habe, sei diese unbegründet. In Fällen unbegründeter Anhörungsrüge sei die Rüge der Befangenheit ebenfalls unzulässig.

Man kann darüber streiten, ob im Verfahren einer Gegenvorstellung eine Rüge der Befangenheit der an der Entscheidung beteiligten Richter grundsätzlich möglich ist. Dagegen spricht die vom Oberlandesgericht Hamm in dem Beschluss vom 15.01.2015 (Anlage 6) unter Ziffer II.1 (= S. 5) zitierte Rechtsprechung. Dafür spricht, dass eine Gegenvorstellung zwar gesetzlich nicht geregelt, jedoch verfassungsrechtlich im Petitionsrecht (Art. 17 GG) verankert ist. Wenn schon die Möglichkeit der richterlichen Selbstkorrektur eingeräumt wird, dann sollten in dem dafür eingeräumten Verfahren auch rechtsstaatliche Grundsätze – zu diesen gehört das Recht auf einen unbefangenen Richter – gelten. Im Übrigen handelt es sich bei der Anhörungsrüge letztlich um einen Sonderfall einer Gegenvorstellung (vgl. SK-StPO – Wolter, § 33a, Rn. 22), so dass vieles dafür spricht, in beiden Verfahren dieselben rechtsstaatlichen Maßstäbe anzuwenden.

Man kann ebenfalls darüber streiten, ob die Geltendmachung der Befangenheit im Verfahren der Anhörungsrüge nach § 33a StPO auf diejenigen Fälle beschränkt ist, in denen die Anhörungsrüge begründet ist (so Cirener, in; BeckOK-StPO, § 25 Rn. 8a; Kretschmer JR 2007, 172; Löwe/Rosenberg/Siolek StPO § 25 Rn 13 mwN; offen gelassen von BGH JR 2007, 172, im Zusammenhang mit § 356a StPO, m. Anm. Kretschmer = BeckRS 2011, 15375).

Aus Sicht der Beschwerdeführerin können beide der durch das Oberlandesgericht Hamm aufgeworfenen Fragen offenbleiben. Denn aus Sicht der Beschwerdeführerin handelt es sich bei dem Schriftsatz vom 0.0.2014 (= Anlage 4 der Verfassungsbeschwerde 0.0.2014) unzweifelhaft um eine statthafte Gehörsrüge i.S.v. § 33a StPO, die im Ergebnis auch begründet ist.

Zutreffend geht das Oberlandesgericht Hamm in seinem Beschluss vom 15.01.2015 davon aus, dass bei Bejahung dieser beiden Bedingungen eine inhaltliche Positionierung zur Frage der Befangenheit der abgelehnten Richter unumgänglich gewesen wäre (vgl. Anlage 6, Ziffer II Nr. 4 des Beschlusses, Seite 4 unten, vom OLG als „subsidiäre“ bzw. „inzidente“ Prüfung bezeichnet: „Die Anhörungsrüge wäre unbegründet. Unabhängig davon, ob der Senat die in der Entscheidung des Landgerichts vom 29. September 2014 mitgeteilten Rechtsauffassungen teilt oder ob die Entscheidung „richtig“ ist, ergibt sich aus den Gründen der Entscheidung eindeutig, dass die Kammer den Schriftsatz der Beschuldigten vom 17. September 2014 berücksichtigt und sich mit den darin enthaltenen Ausführungen auseinandergesetzt hat. (…) Zudem ist weder ersichtlich noch wird im Rahmen der Antragsschrift oder der Beschwerdebegründung dargelegt, dass die Kammer bei ihrer Entscheidung Tatsachen oder Beweismittel verwertet hat, zu denen die Beschuldigte zuvor nicht gehört worden ist.“).

In Übereinstimmung mit den insoweit zutreffenden Überlegungen des Oberlandesgerichts ist daher bereits im vorliegenden Verfahren, d.h. bezüglich der „neuen“ Anhörungsrüge, zu klären:

  1. Handelte es sich bei der „alten“ Anhörungsrüge vom 0.0.2014 (= Anlage 4 der Verfassungsbeschwerde 0.0.2014) um einen statthaften Rechtsbehelf im Sinne von § 33a StPO?
  1. Wenn ja: War die Gehörsrüge begründet?

Das Oberlandesgericht hat (wie schon zuvor das Landgericht in dem Beschluss vom 0.0.2014, Anlage 4) eine inhaltliche Prüfung der Befangenheit verweigert. Kommt man zu dem Ergebnis, dass im Ausgangsverfahren eine begründete Anhörungsrüge (= „alte Gehörsrüge“) vorlag, so hätte das Oberlandesgericht sich zur Frage der Befangenheit in irgendeiner Weise inhaltlich positionieren müssen. Unter den genannten Bedingungen liegt in dem Umstand, dass es dies nicht getan hat, ein neuer, eigenständiger Verstoß gegen das Gebot rechtlichen Gehörs (Art. 103 I GG) vor.

Bereits jetzt sind daher die verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen der oben aufgeworfenen Fragen zu klären, die eigentlich erst nach Abschluss des „alten“ Verfahrens der Anhörungsrüge (d.h. nachdem das Landgericht erneut über diese entschieden hat), im Rahmen der Verfassungsbeschwerde vom 0.0.2014 die endgültigen Zulässigkeitsvoraussetzungen erfüllen.

II. Handelt es sich bei dem Schriftsatz vom 0.0.2014 (= Anlage 4 der Verfassungsbeschwerde 0.0.2014) um eine Gehörsrüge i.S.v. § 33a StPO oder um eine gesetzlich nicht geregelte Gegenvorstellung?

Die Beschwerdeführerin vertritt die Rechtsauffassung, dass die Maßstäbe, die vom LG und vom OLG Hamm bei der Definition bzw. Handhabung der Gehörsrüge vom angelegt wurde, den verfassungsrechtlichen Anforderungen des Art. 103 I GG nicht genügen.

Die Abgrenzung von Gehörsrüge zur bloßen Gegenvorstellung (oder anderen nicht gesetzlich geregelten Rechtsbehelfen, die ihre Wurzel im Petitionsrecht gemäß Art. 17 des Grundgesetzes haben) ist von verfassungsrechtlicher Bedeutung – nicht nur im Hinblick darauf, dass die Einlegung einer Gehörsrüge gemäß der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Beschluss des Ersten Senats vom 16.07.2013 (1 BvR 3057/11) beispielsweise auch für die Berechnung der Frist nach § 90 BVerfGG maßgeblich sein kann.

Ginge es nach den angegriffenen Beschlüssen der Gerichte in Hamm, wäre der Anwendungsbereich der Gehörsrüge praktisch auf Null reduziert. Denn es wäre dann kaum ein Fall vorstellbar, der noch als Gehörsrüge bezeichnet werden könnte. Die Formulierung in den angegriffenen Entscheidungen, dass eine bloße andere Rechtsauffassung nicht dazu führen könne, dass der Rechtsweg über die Gehörsrüge gewissermaßen „verlängert“ wird, klingt zwar auf den ersten Blick gesehen plausibel. Sowohl das Landgericht als auch das Oberlandesgericht Hamm versäumen es indes, konkrete Maßstäbe offen zu legen, anhand derer eine „bloß andere Rechtsauffassung“ von einem substantiellen Vorbringen des Rechtssuchenden abzugrenzen ist, das missachtet wurde.

Die Verstöße gegen den Grundsatz rechtlichen Gehörs, die im Schriftsatz vom 0.0.2014 (= Anlage 4 der Verfassungsbeschwerde 0.0.2014) konkret vorgebracht wurden, lassen sich in drei Kategorien einteilen:

  1. Rechtsausführungen, die von dem Gericht ignoriert wurden.

Hierzu gehört beispielsweise das Vorbringen, dass für die Annahme einer Beihilfe durch einen Rechtsanwalt besondere Darlegungspflichten hinsichtlich des Vorsatzes bzw. der Konkretisierung der Beihilfehandlung bei „berufstypischem Verhalten“ bestehen.

  1. Neuer Sachvortrag, auf den das Gericht nicht eingeht.

Hierzu gehört beispielsweise die Darlegung, dass die Behauptung, wonach die Beschwerdeführerin nach der Durchsuchung in ihrer Kanzlei „…“ haben soll, nachweislich falsch ist, was durch eine einfache Abfrage bei den Banken geklärt hätte werden können.

  1. Entscheidung ohne Aktenkenntnis.

Das Landgericht hat in seiner ersten Entscheidung, mit der die Beschwerde gegen die Durchsuchungsbeschlüsse abgelehnt worden war den Tatverdacht einer Steuerhinterziehung durch Herrn H. als vermeintliche Haupttat bejaht, ohne die Ermittlungsakten aus diesem Verfahren zu kennen.

In dem Beschluss wird von dem Landgericht nicht offengelegt, dass es den Richtern objektiv gar nicht möglich war, etwas Sinnvolles zum Tatverdacht bezüglich der Haupttat zu sagen. Es wird in dem Beschluss von den Richtern auch nicht behauptet, dass die Aktenkenntnis entbehrlich war, beispielsweise weil sich genügend Anhaltspunkte für die Haupttat in der Ermittlungsakte in dem gegen die Beschwerdeführerin gerichteten Verfahren befänden. Tatsächlich befanden sich in dieser Akte keine Anhaltspunkte für eine Haupttat (vgl. Anlage 8 der Verfassungsbeschwerde = vollständige Ermittlungsakte aus dem Strafverfahren gegen die Beschwerdeführerin, so wie sie dem LG zum Zeitpunkt des Beschlusses vom 0.0.2014 vorlag).

Ob die unter 1. und 2. genannten Gehörsverstöße verfassungsrechtlich relevant sind, hängt davon ab, ob man sie als hinreichend gewichtig und gravierend einstuft. Es sind Fälle denkbar, bei denen Rechts- und/oder Sachverhaltsvorbringen in einem Strafverfahren in einer Entscheidung zwar nicht ausdrücklich erörtert wird, sich aus dem Gesamtzusammenhang der Entscheidung jedoch ergibt, dass das Gericht sich damit inhaltlich und hinreichend substantiiert auseinandergesetzt hat. Nach Auffassung der Beschwerdeführerin liegt so ein Fall hier schon angesichts der Vielzahl von Aspekten vor, die in den Entscheidungen komplett ignoriert werden. Nach Auffassung der Beschwerdeführerin sind diese Aspekte auch von derart substantiellem Gewicht, dass es mehr ist als eine bloße divergierende Rechtsauffassung, wenn ein Gericht die Aspekte vollständig in den schriftlichen Entscheidungsgründen übergeht.

Nach der Rechtsauffassung der Beschwerdeführerin kann die Gewichtung der einzelnen gerügten Verstöße vorliegend jedoch offenbleiben. Denn die unter 3. aufgeworfene Frage, ob ein Gericht ohne Aktenkenntnis entscheiden darf, lässt sich vom konkreten Fall abstrahiert mit „Ja“ oder „Nein“ beantworten.

Nach Auffassung der Beschwerdeführerin muss die Antwort „Nein“ lauten – mit der Folge, dass zumindest der Rechtsbehelf nach § 33a StPO statthaft ist.

Es handelt es sich um den schwersten aller denkbaren Gehörsverstöße. Wäre die Rechtsauffassung des Landgerichts und des Oberlandesgerichts Hamm richtig, so würde der gesetzlich vorgesehene Rechtsbehelf des § 33a StPO ins Leere laufen.

Im Übrigen zitieren sowohl das LG als auch das OLG Hamm den Gesetzeswortlaut des § 33a StPO bzw. die dazu ergangenen Rechtsprechung des BGH falsch bzw. unvollständig.

Das Landgericht führt in der Entscheidung vom 17.12.2014 aus (Anlage 4, Seite 2, letzter Absatz):

§ 33a StPO setzt in sachlicher Hinsicht voraus, dass das Gericht zum Nachteil eines Beteiligten Tatsachen oder Beweisergebnisse verwendet hat, zu denen er nicht gehört worden ist, oder dass Verteidigungsvorbringen übersehen und nicht in Erwägung gezogen worden ist (vgl. BGH, Beschluss vom 17. November 1999, 3 StR 142/98).“

Eine ähnliche Formulierung verwendet das OLG im Beschluss vom 15.01.2015 (vgl. Anlage 6, Seite 4, Mitte, unter II.1)):

„Denn die Vorschrift des § 33a StPO setzt sachlich voraus, dass ein Gericht zum Nachteil eines Beteiligten Tatsachen und Beweisergebnisse verwertet hat, zu denen er nicht gehört worden ist (…).“

Diese Bedingungen werden in den angegriffenen Beschlüssen verneint, da die Beschwerdeführerin sich – insoweit zutreffend – zum Tatverdacht hinsichtlich der Haupttat nicht geäußert hat.

Mit dem Umstand, dass die Beschwerdeführerin mangels Aktenkenntnis überhaupt keine Möglichkeit hatte, etwas zum Tatverdacht gegen Herrn H. zu sagen, setzen sich beide Gerichte indes nicht auseinander.

Richtigerweise ist jedoch nach dem Gesetzeswortlaut – den verfassungsrechtlichen Vorgaben entsprechend – für die Beurteilung einer Anhörungsrüge maßgeblich, ob zu berücksichtigendes Vorbringen übergangen wurde oder der Anspruch auf rechtliches Gehör in sonstiger Weise verletzt wurde.

Das sieht auch der BGH in Strafsachen zutreffend. So heißt es beispielsweise in dem BGH-Beschluss vom 24.04.2014 (4 StR 479/13):

„Der Senat hat bei seiner Entscheidung keine Tatsachen oder Beweisergebnisse verwertet, zu denen der Verurteilte zuvor nicht gehört worden ist. Er hat auch kein zu berücksichtigendes Vorbringen übergangen und auch sonst den Anspruch auf rechtliches Gehör nicht verletzt.

Es ist im Rahmen des § 33a StPO folglich – entgegen den Auffassungen des LG  und des OLG Hamm – nicht unbedingt erforderlich, dass ein Beschwerdeführer bestimmte Tatsachen vorgetragen hat. Ein Gehörsverstoß liegt vielmehr auch vor, wenn er aus Gründen, die das Gericht zu verantworten hat, nicht in der Lage war, zu einem relevanten Sachverhalt in rechtlicher oder sachlicher Hinsicht Stellung zu nehmen. Denn auch in dieser Konstellation wird zu berücksichtigendes Vorbringen übergangen (vgl. Weßlau, in: SK-StPO, § 33a Rn. 12).

Die in den Beschlüssen angelegten unzutreffenden rechtlichen Maßstäbe beruhen möglicherweise auf einer alten Fassung des § 33a StPO. Dieser wurde im Jahr 2005 geändert:

Wortlaut vom 01.01.2000–31.12.2004:

 

Hat das Gericht in einem Beschluß zum Nachteil eines Beteiligten

 

Tatsachen oder Beweisergebnisse verwertet, zu denen er noch nicht gehört worden ist,

 

und steht ihm gegen den Beschluß keine Beschwerde und kein anderer Rechtsbehelf zu, so hat es, sofern der Nachteil noch besteht, von Amts wegen oder auf Antrag die Anhörung nachzuholen und auf einen Antrag zu entscheiden. Das Gericht kann seine Entscheidung auch ohne Antrag ändern.

Wortlaut seit 01.01.2005:

 

Hat das Gericht in einem Beschluss

 

den Anspruch eines Beteiligten auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt

 

und steht ihm gegen den Beschluss keine Beschwerde und kein anderer Rechtsbehelf zu, versetzt es, sofern der Beteiligte dadurch noch beschwert ist, von Amts wegen oder auf Antrag insoweit das Verfahren durch Beschluss in die Lage zurück, die vor dem Erlass der Entscheidung bestand. § 47 gilt entsprechend.

Die Neufassung durch das sogenannte Anhörungsrügengesetz vom 09.12.2004 (BGBl. I, S. 3220) erfolgte aufgrund des Plenarbeschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 30.04.2003 (BVerfGE 107, 395 [BVerfG 30.04.2003 – 1 PBvU 1/02, vgl. dazu Widmaier, FS Böttcher, S. 228 ff.; Eschelbach/Geipel/Weiler StV 2010, 325).

Der vorliegende Fall bietet Gelegenheit, die verfassungsrechtlichen Grundlagen der gesetzlichen Regelung zu konkretisieren.

III. Ist die Gehörsrüge begründet?

Ja. Denn es wird auch von den Gerichten in Hamm nicht ernsthaft behauptet, dass der Tatverdacht einer Beihilfe sich ohne den Tatverdacht einer Haupttat bejahen lässt. Dies folgt schon aus dem Wortlaut des § 27 StGB, wo die sogenannte Akzessorietät der Beihilfe geregelt ist.

Das Gericht hat auf die „erste“ Gehörrüge hin daher die Akten aus dem Verfahren gegen Herrn H. beizuziehen und die Beschwerdeführerin in die Lage zu versetzen, hierzu Stellung zu nehmen. Dies war richtigerweise schon vor Erlass des Beschlusses vom 0.0.2014 (= Anlage 3 der Verfassungsbeschwerde) geboten

C. Verstoß gegen das Gebot des gesetzliche Richters (Befangenheit), Art. 101 I GG

Die Tatsache, dass die Richter des LG in ihrer Entscheidung vom 0.0.2014 (Anlage 3 der Verfassungsbeschwerde) einen Tatverdacht der Haupttat ohne Aktenkenntnis bejaht haben, begründet die Besorgnis der Befangenheit. Der Befangenheitsantrag wurde auch rechtzeitig geltend gemacht, da es keine frühere Möglichkeit gab und im Rahmen einer begründeten Anhörungsrüge nach § 33a StPO die gleichzeitige Rüge der Befangenheit möglich ist. Die noch zu erlassende Entscheidung des LG über die („erste“) Anhörungsrüge vom 0.0.2014 (= Anlage 4 der Verfassungsbeschwerde vom 0.0.2014) wird nach derzeitigem Sachstand demnächst von Richtern erlassen werden, die nicht die gesetzliche Richter i.S.v. Art. 101 I GG sind.

Es kann im vorliegenden Verfahren dahinstehen, ob die Besorgnis schon dann besteht, wenn ein Gericht nur „schlampig“ arbeitet, also beispielsweise vergisst, sich die zur Entscheidungsfindung notwendigen Aktenbestandteile zu besorgen oder von unzutreffenden rechtlichen Tatsachen ausgeht.

Letzteres kann ausgeschlossen werden, da von Berufsrichtern am Landgericht erwartet werden kann, die Voraussetzungen der Strafbarkeit einer Beihilfe nach § 27 StGB zu kennen.

Vorliegend ist die Besorgnis der Befangenheit bereits dadurch begründet, dass die Richter des LG in ihrer Entscheidung vom 0.0.2014 (= Anlage 3 der Verfassungsbeschwerde) nicht kenntlich gemacht haben, dass sie keinen Einblick in die Akte H. hatten und es auch nicht für erforderlich hielten, diese anzufordern.

In dem fraglichen Beschluss wird auf Seite 4 (letzter Absatz) ausgeführt (…). Mit diesen Ausführungen wird suggeriert, dass die abgelehnten Richter mindestens dieselbe Sachkenntnis hatten wie die Ermittlungsrichterin. Eben dies war nicht der Fall. Anders als den abgelehnten Richtern der Strafkammer hatten der Ermittlungsrichterin die Akten aus dem Verfahren H. zumindest schon einmal vorgelegen – denn sie hatte den Durchsuchungsbeschluss gegen Herrn H. selbst erlassen.

Aus der Sicht eines besonnen Beschuldigten entsteht bei dieser Sachlage der Eindruck, dass das Gericht den wahrheitswidrigen Anschein erwecken will, eine rechtliche und sachliche Prüfung vorgenommen zu haben, die es gar nicht vornehmen konnte.

Dieser Eindruck begründet die Besorgnis der Befangenheit.