Wie unabhängig sind Richter?

Richterliche Unabhängigkeit und Bindungswirkung von Urteilen

Immer wieder kommt es vor, dass Rechtsauffassungen von Gerichten auseinander gehen. Dann entscheidet z.B. das Amtsgericht Buxtehude anders als das Landgericht Nürnberg-Fürth. Dabei wurde die rechtliche Frage bereits vom Bundesgerichtshof entschieden – und in der juristischen Fachliteratur gibt es zahllose Stimmen, die noch einmal anderer Meinung sind. Nicht umsonst glaubt sich der Volksmund dann vor Gericht und auf hoher See in Gottes Hand.

Welche Verhaltensweisen strafbar sind, steht zunächst einmal im Gesetz. Für die Frage, ob eine konkrete Tat tatsächlich unter den Gesetzeswortlaut zu fassen ist, muss das Gesetz ausgelegt werden. Der Jurist kennt verschiedene Auslegungsmethoden, als deren absolute Grenze stets der Wortlaut des Gesetzes gilt. Diese Grenze ist im Strafrecht besonders wichtig; das sogenannte Analogie-Verbot hat Verfassungsrang (vgl. Art. 103 Absatz 2 Grundgesetz und § 1 Strafgesetzbuch). Innerhalb dieser Grenze besteht jedoch viel Spielraum und allein deswegen kann es zu der vermeintlich paradoxen Situation kommen, dass es der eine so, der andere so sieht – und beide Recht haben.

Nicht zuletzt deswegen haben die Richter, die einen konkreten Fall zu entscheiden haben, einen erheblichen Entscheidungsspielraum. Deshalb sind Richter nach Art. 97 GG „unabhängig und nur dem Gesetze unterworfen.“ Dem Richter steht es frei, sein Verständnis der in Frage stehenden Norm zur Grundlage des Urteils zu machen – solange er sich dabei an das (auslegungsfähige und -bedürftige) Gesetz hält. Mit der Zeit können sich bestimmte Ansichten verfestigen und durchsetzen, sich aber auch wieder ändern. So wird sichergestellt, dass das Recht zeitgemäß angewandt wird, ohne dass der Gesetzgeber tätig werden muss. Dabei wird bestimmten richterlichen Entscheidungen von vornherein mehr Gewicht zugemessen als anderen. Urteile des Bundesverfassungsgerichts etwa binden gem. § 31 Abs. 1 BVerfGG „die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden.“ In manchen Fällen haben die Entscheidungen sogar Gesetzeskraft, § 31 Abs. 2 S. 1 BVerfGG.

Für den Richter bedeutet seine Unabhängigkeit aber auch, dass er Entscheidungen anderer Gerichte als des Bundesverfassungsgerichts, egal ob höherer oder niederer Ordnung, nicht beachten muss – selbst wenn alle anderen Gerichte eine andere Meinung vertreten. Solange sie sich nicht aus dem Gesetz ergibt, entfalten diese Entscheidungen keine Bindungswirkung. Die damit einhergehende Ungleichheit in der Rechtsanwendung, die sich regelmäßig etwa in der Sanktionsschere zwischen Norden und Süden (laxes Berlin, strenges Bayern) zeigt, ist der Preis für die Unabhängigkeit der Justiz von jeder, vor allem politischer, Einflussnahme.

Bis ein Fall aber überhaupt zur Entscheidung durch ein Gericht gelangt, geht eine Akte durch mehrere Hände. Polizei und Staatsanwaltschaft, die sich ja schon lange vor dem Richter mit dem Fall beschäftigen, sind ein Vorfilter. Gleichzeitig sind aber auch sie nach Art. 20 Abs. 3 GG an Recht und Gesetz gebunden. Es ließe sich also einwenden, die Polizei müsste doch gar nicht ermitteln, wenn sie nur einer Rechtsauffassung folgte, die ein bestimmtes Verhalten gar nicht für strafbar hält. Insoweit stellt sich die Frage, ob die Strafverfolgungsbehörden einer bestimmten Rechtauffassung folgen müssen.

Für die Polizei hat die Rechtssprechungspraxis erst einmal nur sehr mittelbare Bedeutung. Wenn sie, z.B. durch eine Strafanzeige, Kenntnis von dem Verdacht einer Straftat erhält, ist sie nach §§ 152163 StPO verpflichtet, zu ermitteln. In den seltensten Fällen wird es bereits zu diesem frühen Zeitpunkt darum gehen, ob ein bestimmtes Verhalten nach ständiger Rechtsprechung eines Gerichts strafbar ist oder nicht. Vielmehr steht am Ende der Ermittlungen ein Bericht an die zuständige Staatsanwaltschaft, die dann entscheidet, ob Anklage erhoben wird oder nicht.

Das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, dessen „Herrin“ die Staatsanwaltschaft ist, wirkt tatsächlich wie ein Vorfilter. In weniger als 15% der Fälle kommt es zu einer Anklage. Insgesamt enden überhaupt nur ca. 35% aller polizeilich eingeleiteten Verfahren mit einer Sanktion für den Beschuldigten.

Was ist, wenn ein besonders eifriger Polizeibeamter ein nach mancher Auffassung strafloses Verhalten als strafbar ansieht? Die Staatsanwaltschaft ist nicht gezwungen, dieser Ansicht zu folgen. Anders als Richter sind Staatsanwälte jedoch nicht unabhängig, sondern ausdrücklich weisungsgebunden, § 146 GVG, und somit nicht frei von politischer Einflussnahme.

Schließt sich der zuständige Staatsanwalt der Ansicht des ermittelnden Polizeibeamten an, obwohl es wahrscheinlich doch um ein strafloses Verhalten geht, muss immer noch das zuständige Gericht entscheiden, ob es die Anklage zum Verfahren zulässt, § 199 StPO. Bis dahin haben sich regelmäßig mehrere Juristen recht ausgiebig mit der Materie befasst. Im Idealfall natürlich auch ein Strafverteidiger, der im Zweifel gute Gründe vorgebracht hat, weshalb das Verhalten gerade nicht strafbar ist und man sich und dem Beschuldigten das Verfahren ersparen kann.

Nur äußerst selten ist ein Tatgeschehen so einfach gelagert, dass sich auf den ersten Blick beurteilen lässt, ob der Fall nun mit Verweis auf die Urteilspraxis des Gerichts A strafbar oder mit Verweis auf die Urteilspraxis des Gerichts B straflos ist. In aller Regel werden derlei Probleme erst im Hauptverfahren, also vor Gericht erörtert. Die Chancen, den Richter dann mit dem Verweis auf die Entscheidungspraxis anderer Gerichte zu überzeugen, sind dann allerdings gering – schließlich hat er im Zweifel bereits die Anklage zugelassen und sich mit der Rechtsauffassung identifiziert. Vielleicht ist er aber auch der erste Richter, der sich einer neuen Rechtsauffassung anschließt und sich von den Argumenten überzeugen lässt – an die bisherige Rechtsprechungspraxis ist er ja nicht gebunden.

Bei besonders schwierigen und umstrittenen Rechtsfragen kommt es auch vor, dass im Instanzenzug mehrere Gerichte nach Berufung und Revision zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Der skurrile Nürnberger-Zahngold-Fall war ein Beispiel dafür.

Besonderheiten im Steuerstrafrecht

Insbesondere im Steuerstrafrecht kann die Unabhängigkeit von Richtern merkwürdige Konsequenzen haben. So ist es beispielsweise möglich, dass ein Angeklagter im (Steuer-)Strafverfahren wegen Steuerhinterziehung verurteilt wird – und später das Finanzgericht im Steuerrecht zu dem Ergebnis kommt, dass überhaupt keine Steuern angefallen sind. Ein solch widersprüchliches Ergebnis führt nicht automatisch zu der Wiederaufnahme des Strafverfahrens. Selbst eine Geldauflage, die im Rahmen einer Einstellung eines Strafverfahrens gemäß § 153a StPO gezahlt wurde, wird nicht zurück erstattet.

Aufgabe des Verteidigers in Steuerstrafsachen ist es daher, zu einem möglichst frühen Zeitpunkt darauf hin zu wirken, dass einheitliche – und positive – Ergebnisse für den Mandanten erreicht werden.

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