Der Fall Gustl Mollath – Justizskandal oder Gerichtsalltag? (Teil 3)

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(Fortsetzung des Kommentars „Der Fall Mollath“

von RA Dr. Tobias Rudolph)

(Teil 3)

 

VI. Schwachstellen des Systems

Im Folgenden werden einige Missstände der deutschen Strafprozesspraxis aufgelistet, die (mehr oder weniger) auch im Fall Mollath eine Rolle spielten. Teilweise lassen sich diese Missstände auf eine veraltete oder nicht sachgerechte Gesetzeslage zurückführen. Zum großen Teil gehen Fehlerquellen allerdings auf eine fragwürdige Handhabung der bestehenden Gesetze durch Richter und Staatsanwälte in der Praxis zurück (auch Rechtsanwälte bzw. Strafverteidiger spielen dabei nicht immer eine glückliche Rolle).

Manche der Missstände könnten durch eine kritische Grundhaltung der Beteiligten sofort geändert werden. In anderen Punkten erscheint der Ruf nach einer Änderung der Gesetzeslage derzeit noch wie eine Utopie. Doch auch die größte Reise beginnt mit dem ersten Schritt – und dieser besteht darin, erst einmal ein allgemeines Bewusstsein für die Unzulänglichkeiten des Strafprozesses zu schaffen.

 

1) Richter und Staatsanwälte – ein Team, das zusammenhält

Um in Bayern Richter zu werden, muss man in der Regel erst einmal Staatsanwalt sein. Das bayerische Justizministerium stellt Absolventen ausschließlich danach ein, ob sie die sogenannte „Staatsnote“ im zweiten Staatsexamen erreicht haben. Auf Lebenserfahrung, Charakter, Rechtsstaattreue und menschliche Qualitäten wird praktisch kein Wert gelegt.

In der Regel beginnen junge Juristen, die in den Staatsdienst kommen, als Staatsanwälte und durchlaufen dann verscheiden Stationen an den Gerichten. Es findet ein regelmäßiger Wechsel durch verschiedene Abteilungen und Referate statt. Die Staatsbediensteten sollen mehrere Lebensbereiche kennenlernen und auch verschiedene Funktionen ausfüllen.

Selbst Absolventen mit Spitzennoten werden in der Regel nur innerhalb der ersten drei Jahre nach Beendigung ihrer Ausbildung eingestellt. Wer sich unmittelbar nach Abschluss des Staatsexamens dazu entschieden hat, Rechtsanwalt zu werden oder in einem Unternehmen zu arbeiten, dem bleiben nach Ablauf der genannten Zeitspanne die Türen zur Justiz für immer verschlossen.

Nach meiner Auffassung führt diese Rekrutierung der Richter und Staatsanwälte zu einem unglücklichen Selbstverständnis der Akteure. Denn wer heute Staatsanwalt ist, wird dem Richter, der ihm gegenüber sitzt, im Zweifel noch oft begegnen. Abgesehen davon, dass bei den meisten bayerischen Staatsanwaltschaften die Richterschaft und die Staatsanwälte in denselben Räumlichkeiten angesiedelt sind und sich jeden Tag in der Kantine begegnen, findet eine ständige Personalrochade statt. D.h. wer heute Staatsanwalt ist, kann sich morgen als Beisitzer neben dem Vorsitzenden des Landgerichtes befinden, dem er einige Wochen zuvor noch als Gegenspieler begegnete.

Durch die personelle Durchmischung von Richtern und Staatsanwälten findet eine Gewaltenteilung zwischen diesen beiden Institutionen faktisch nicht statt. Dies ist in anderen Bundesländern zwar teilweise anders. Für ganz Deutschland lässt sich jedoch konstatieren, dass Richter oder Staatsanwälte, die auch einmal die Perspektive des Rechtsanwalts erlebt haben, so gut wie nicht existieren.

In anderen westlichen Demokratien ist das anders. Wer sich hier einmal dazu entscheidet, Staatsanwalt zu werden, der bleibt dies in der Regel für den Rest seines Lebens. Richter werden in vielen fortschrittlichen Demokratien gewählt oder ernannt, wenn sie sich als Rechtsanwälte (oder auch als Staatsanwälte) nach jahrelanger Berufserfahrung besonders hervorgetan haben. Neben der fachlichen Qualifikation spielen dabei Akzeptanz im Kollegenkreis, das öffentliche Ansehen und die beruflichen Erfolge eine Rolle.

Ich stelle die These auf, dass sich das Selbstverständnis von Richtern und Staatsanwälten drastisch verändern würde, wenn diese erst einmal ein paar Jahre als Rechtsanwälte gearbeitet hätten. Wer sich in der freien Wirtschaft und im persönlichen Kontakt mit dem Mandanten behaupten muss, lernt zwangsläufig zuzuhören. Rechtsanwälte sind ständigen Haftungsrisiken – und nicht selten dem Risiko der Strafverfolgung – ausgesetzt. Es gibt ganze Bibliotheken voll Literatur über die Grenzen zulässigen Verteidigerverhandelns und darüber, welche Konsequenzen einem Rechtsanwalt drohen, der gegen das Berufsrecht oder Strafgesetze verstößt. Derartige Verstöße werden häufig, schnell und effektiv geahndet.

Völlig anders sieht es in der gegenwärtigen Situation bei Richtern und Staatsanwälten aus. Unter Staatsanwälten gilt es beispielsweise als völlig normal, dass man gegen ein Urteil eines Amtsgerichtes in Berufung geht, wenn man damit rechnet, dass der Angeklagte dies auch tut. Dies geschieht nur deshalb, um es dem Angeklagten möglichst schwer zu machen, seine Position vor Gericht noch einmal überprüfen zu lassen. Staatsanwälte, die so handeln verstoßen damit eindeutig gegen zwingende rechtliche Regelungen (vgl. Nr. 147 RiStBV). Gleichwohl scheitern in der Praxis fast alle Versuche, dieser schon fast zur Gewohnheit gewordenen Missachtung des Rechts entgegen zu wirken.

Eine ähnliche Unsitte bei Richtern ist es beispielsweise, einem Angeklagten in der Hauptverhandlung eine Haftstrafe ohne Bewährung anzudrohen, wenn er nicht die vermeintlich begangene Tat gesteht. Es werden bei nicht geständigen Angeklagten unverhältnismäßig hohe Strafen verhängt. Die Kluft des Strafrahmens zwischen geständigen Angeklagten und nicht geständigen Angeklagten lässt sich häufig nur damit erklären, dass diejenigen Beschuldigten, die auf ihre Unschuld beharren, klein gemacht werden sollen. Ihre Verteidigungsmöglichkeiten werden beschnitten.

Jeder Strafverteidiger hat es schon erlebt, dass nach einer umfangreichen Beweisaufnahme vor einem Landgericht im Urteil Zeugenaussagen ganz anders wiedergegeben werden, als er diese selbst in Erinnerung hat. Manchmal fehlen entscheidende Passagen, die aus Sicht der Verteidigung zwingend zu einer ganz anderen Beurteilung der Rechtsfolgen führen müssten. Dieses Gefühl, „in einem anderem Film gesessen zu haben“, kann verschiedene Ursachen haben. Zum einen liegt es an den verschiedenen Prozessrollen, dass man unterschiedliche Sachverhalte unterschiedlich wahrnimmt. Es gibt eine ganze Reihe von wissenschaftlich-psychologischen Untersuchungen darüber, wie sehr die Wahrnehmung von Fakten von der Perspektive und von der Art und Weise, wie man die Fakten präsentiert bekommt, abhängen kann.

Differenzen in der Erinnerung von Verteidigern und Gericht mögen zum Teil diesen unterschiedlichen Wahrnehmungen geschuldet sein. Hätte ein Richter jedoch ein paar Jahre seines Lebens Erfahrungen als Verteidiger gesammelt, würde sich seine Wahrnehmung mit Sicherheit verändern. Er würde höchstwahrscheinlich ein feineres Gespür für die entlastenden Momente einer Beweisaufnahme entwickeln.

Immer wieder kommt allerdings auch der Eindruck auf, dass die Lücken bzw. Abweichungen in Urteilen absichtlich entstehen, nach dem Motto „Was nicht passt, wird passend gemacht“. Manch ein Referendar, der während seiner Ausbildungszeit die Ergebnisse der Beweisaufnahme im Urteil so wiedergegeben hat, wie sie tatsächlich stattgefunden haben, musste sich vom Ausbilder sagen lassen „Das wird gestrichen – sonst machen wir uns unnötig angreifbar….“.

Richter, die so etwas tun, mögen im guten Glauben handeln, auf diese Weise das Verfahren effektiver zu gestalten und im Ergebnis ohnehin richtig zu urteilen. In Wirklichkeit ist eine solche Haltung aber Ausdruck einer unsäglichen kriminellen Arroganz. Ein Richter, der bewusst Zeugenaussagen falsch oder unvollständig wiedergibt, hält sich für unfehlbar. Das ist die Quelle für eklatante Fehlurteile zu Lasten Unschuldiger.

Das Problem solcher Falschdarstellungen in Urteilen (aus welchen Motiven heraus sie auch zustande gekommen sein mögen) ist, dass sie kaum korrigiert werden können. Denn in der Revision durch das Oberlandesgericht oder den Bundesgerichtshof werden die Urteilsgründe, so wie sie durch das Gericht niedergeschrieben werden, als unumstößlich hingenommen. D.h. der Verteidiger hat kaum Chancen, ein Urteil mit der Behauptung aufzuheben, ein Zeuge habe so etwas nicht gesagt bzw. einen Sachverhalt ganz anders geschildert. Die Revisionsrichter in Karlsruhe schmettern derartige Rügen meist mit dem lapidaren Hinweis ab, dass es nicht ihre Aufgabe sei, die Hauptverhandlung zu rekonstruieren.

In den wenigen Fällen, in denen es gelingt, die Sachverhaltsdarstellung in einem Urteil anzugreifen, hat es praktisch nie Konsequenzen für die Richter, die das Fehlurteil zu verantworten haben. Sie machen weiterhin Karriere. Die Aufhebung eines Urteils schadet in der bayerischen Justizleiter allenfalls dann, wenn das aufgehobene Urteil zu Gunsten eines Angeklagten lautete. Hat ein Richter hingegen einen Angeklagten unschuldig verurteilt oder unangemessen hart bestraft, so hat das auf seine beamtenrechtliche Beurteilung kaum negativen Einfluss.

Abgesehen davon, dass es für fahrlässige oder vorsätzliche Rechtsverstöße durch Richter und Staatsanwälte praktisch keine dienstrechtlichen Konsequenzen gibt, haben sie erst recht keine persönlichen Konsequenzen zu fürchten – beispielsweise in Form einer Schadensersatzhaftung. Während Anwälte jeden Schritt, den sie zu verantworten haben, immer unter der möglichen Konsequenz einer persönlichen finanziellen Haftung überdenken müssen, gibt es in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland praktisch keinen einzigen Fall, in dem es zu einer persönlichen Haftung durch einen Richter oder Staatsanwalt gekommen wäre.

Es gibt ein afrikanisches Sprichwort „Wenn du von allen behandelt wirst, wie ein Huhn, dann glaubst du irgendwann selbst, du seist ein Huhn“. So verhält es sich mit bayerischen Richtern und Staatsanwälten: Wenn sie von allen behandelt werden, als ob sie unfehlbar und unangreifbar seien, so fühlen sie sich früher oder später auch unfehlbar und unangreifbar.

Um einem Missverständnis vorzubeugen: Hier soll nicht gesagt werden, dass Richter oder Staatsanwälte mehr oder weniger kriminell oder schludrig sind, als Rechtsanwälte, insbesondere Strafverteidiger. Aus Sicht der Justizangehörigen wird manchmal sogar das Gegenteil behauptet, nämlich das Rechtsanwälte, die im Wettbewerb untereinander stehen und häufig einem finanziellen Druck ausgesetzt sind, eher verführbar sind, ihre Grenzen in strafbarer Weise zu überschreiten.

Doch selbst wenn man davon ausgeht, dass der Beruf des Strafverteidigers ständig mit der Gefahr verbunden ist, Gesetze zu verletzen, und auch wenn man konzediert, dass es in der Szene sicherlich auch einige „schwarze Schafe“ gibt, lässt sich jedoch eines festhalten: Gesetzesverstöße durch Rechtsanwälte werden fast immer schnell und schonungslos geahndet. Häufig sind es Kollegen selbst, die derartige Verstöße rügen.

Wird eine Gesetzesverletzung durch einen Anwalt bekannt, wird sofort die Rechtsanwaltskammer eingeschaltet, die keine schwarzen Schafe in ihren Reihen duldet. Auch die Hemmschwelle der Justiz, gegenüber Anwälten zu ermitteln, liegt tief. Darüber hinaus gibt es eine ganze Armee von Anwälten, die sich auf Schadensersatzforderungen gegen Kollegen spezialisiert haben. Fehler von Rechtsanwälten haben daher so gut wie immer nicht nur berufs- oder strafrechtliche Konsequenzen, sondern auch ganz konkret spürbare finanzielle Folgen für die Verantwortlichen.

Vergleichbare Sicherungs- und Korrekturmechanismen sucht man für Verfehlungen von Richtern und Staatsanwälten vergeblich.

 

Warum ist das System so wie es ist?

Die Verantwortlichen in den Justizministerien sind nicht naiv. Die Art und Weise, wie der Justiz-Nachwuchs rekrutiert wird, ist kein Zufall. Es soll das Gefühl der Zusammengehörigkeit geschaffen werden. Richter und Staatsanwälte sollen sich als Teil eines besonderen Teams fühlen – stark, geschlossen und unangreifbar. Dieses Bild soll auch nach außen vermittelt werden.

Das Problem dabei ist, dass diese Eigenschaften zwar einer Fußballmannschaft gut zu Gesicht stehen. Als Nährboden für die Wahrheitssuche sind sie denkbar ungeeignet.

Das oft quälende Ringen um Wahrheit und Gerechtigkeit gedeiht am Besten in einem Klima von Zweifeln, Offenheit und persönlicher Verantwortung. Bisher tut die Justiz wenig, dieses Klima zu fördern.

 

2) Sachverständige und Pflichtverteidiger – Das Phänomen der „Beiordnungsprostitution“

In dem Verfahren Mollath wird öffentliche Kritik auch an dem damals beteiligten Verteidiger und an den Gerichtsgutachtern laut. Unabhängig von der Frage, ob bzw. inwieweit diese Kritik im Einzelfall tatsächlich berechtigt ist, offenbaren sich auch bezüglich dieser Verfahrensbeteiligten strukturelle Mängel des deutschen Strafprozesses.

Ab einer bestimmten Schwere der vorgeworfenen Straftat sieht die Strafprozessordnung einen notwendigen Verteidiger (umgangssprachlich Pflichtverteidiger genannt) vor. Dieser wird einem Angeklagten vom Gericht bestellt, der noch keinen Wahlverteidiger hat. Dazu kommt es in den Fällen, in denen sich der Angeklagte keinen renommierten Strafverteidiger leisten kann, oder bei denen er selbst so nachlässig mit dem gegen ihn erhobenen Vorwurf umgeht, dass er sich nicht um eine ordentliche Verteidigung kümmert. Die Angeklagten werden aufgefordert, innerhalb einer kurzen Frist einen Rechtsanwalt zu benennen. Kennen sie keinen geeigneten Strafverteidiger oder lehnt der Anwalt ihrer Wahl die Übernahme des Mandats aus finanziellen Gründen ab, bestellt das Gericht einen Verteidiger, den es sich selbst aussucht.

Es bedarf keiner besonderen Lebenserfahrung oder hellseherischer Fähigkeiten, um sich vorstellen zu können, dass ein Richter in dieser Situation dazu neigen wird, sich einen Verteidiger auszusuchen, der ihm keine „Steine in den Weg legt“.

In diesem Zusammenhang wird – zugegebenermaßen etwas despektierlich – vom Phänomen der „Beiordnungsprostitution“ gesprochen. Mit diesem Begriff wird zum Ausdruck gebracht, dass ab und zu der Eindruck besteht, dass Verteidiger, die durch ein Gericht ausgesucht werden, es „dem Richter recht zu machen“ versuchen. Dies hat häufig mit mangelnder Berufserfahrung zu tun, teilweise aber auch mit fehlendem Berufsethos oder schlicht mit wirtschaftlicher Abhängigkeit.

Wer als junger Anwalt ein paar Mal durch einen Richter bestellt wurde und dann irgendwann prozessuale Möglichkeiten ausschöpft, die aus Sicht des Gerichts unbequem sind, wird schnell die Erfahrung machen, dass er nie wieder einen solchen Job bekommt.

Erfahrene und erfolgreiche Anwälte sind meist dankbar darum, nicht als Pflichtverteidiger bestellt zu werden. Jüngere und wirtschaftlich weniger erfolgreiche Anwälte sind aber häufig auf derartige Pflichtmandate angewiesen und werden alles daran setzen, auch zukünftig vom Richter ausgewählt zu werden.

Es gibt seit Langem Forderungen, die Auswahl der Pflichtverteidiger nicht mehr den Richtern selbst zu überlassen. Denn das ist so, als ob der Betreiber einer gefährlichen Achterbahn sich seinen eigenen TÜV-Ingenieur aussucht und diesen auch noch selbst bezahlt. Schon Martin Luther wusste: „Wes Brot ich ess, des Lied ich sing“.

Durch eine geringfügige Änderung des Gesetzes könnte man die Auswahl der Pflichtverteidiger beispielsweise auf die Anwaltskammern übertragen oder nach einem Zufallsprinzip organisieren. Diese Idee liegt mehr als nahe und wäre mit minimalen Kosten und Aufwand verbunden. Entsprechende Vorschläge verpuffen aber schon seit Jahren und scheitern an der Richter-Lobby.

Dasselbe Phänomen gibt es auch bei Sachverständigen. Psychiatrische Gutachter sind rar. Ärzte und Psychiater, die sich auf entsprechende Gerichtsgutachten spezialisiert haben, finden in der Regel ihre wirtschaftliche Existenzgrundlage darin, von Staatsanwälten oder Richtern hinzugezogen werden. Auch hier passiert es immer wieder, dass ein Sachverständiger, der vor Gericht etwas sagt, das „nicht von ihm erwartet wurde“, sich danach wundern muss, nicht mehr mit Aufträgen versorgt zu werden.

Auch in der Gutachter-Szene führen wirtschaftliche Abhängigkeiten zu unerträglichen persönlichen Verstrickungen. Daher kommt es sehr selten vor, dass ein „Haus- und Hof-Sachverständiger“ vor Gericht den Mut hat, eine unabhängige und unbequeme Position zu vertreten, die Sand ins Getriebe auf dem Weg zu einer schnellen und effektiven Erledigung eines Verfahrens streut.

 

3) Viel Arbeit, wenig Geld

Fast alle Richter und Staatsanwälte klagen über chronische Arbeitsüberlastung. Dies führt zwangsläufig zu Qualitätseinbußen. Insbesondere Prozesse, die schwierig und umstritten sind, werden auf Teufel komm raus zu verhindern bzw. abzukürzen versucht. Dies geschieht u.a. dadurch, dass man „faule Deals“ mit den Angeklagten trifft. So erlebt man als Verteidiger manchmal Einstellungen von Verfahren bzw. Urteile, die man nach dem eigenen Rechtsempfinden (insgeheim) für zu milde hält. Solche Ergebnisse lassen sich nur dadurch erklären, dass der Richter einen aufwendigen Prozess vermeiden wollte. Dies wiederum hat zur Folge, dass die effektivste Verteidigung häufig weniger in qualitativ hochwertiger rechtlicher Argumentation oder akribischer Sachverhaltsarbeit liegt. Erfolg hat derjenige, der die Kunst beherrscht, „dem Richter möglichst viel Arbeit zu machen“.

Umgekehrt erlebt man es auch in den Fällen, bei denen der Verteidigung die „Folter-Werkzeuge“ fehlen (zum Beispiel, wenn ein Angeklagter ein frühes Geständnis abgegeben hat), dass Angeklagte mit unangemessen hohen Strafen „über den Tisch gezogen“ werden.

Im Ergebnis verkommt der Strafprozess so zu einer teuflischen Spirale gegenseitiger Erpressung. Verständlicherweise freuen sich auch Richter und Staatsanwälte nicht über diese Entwicklung.

Aus dem Dilemma käme man am schnellsten und einfachsten heraus, indem man mehr Stellen für Richter und Staatsanwälte schafft. Diese könnten ihrer Arbeit dann gelassener, souveräner und sorgfältiger nachgehen. Verteidiger hätten wieder Grund, sich auf juristische Argumente und präzises Aktenstudium zu verlassen. Unterm Strich würden die Urteile, nähme man sich für sie nur mehr Zeit, durchschnittlich weder härter noch milder werden, sondern einfach nur gerechter.

Es stünde der Politik – insbesondere dem zuständigen Justizministerium – gut zu Gesicht, sich für mehr finanzielle Mittel und eine bessere personelle und sachliche Ausstattung der Justiz einzusetzen. Diese Forderung ist nicht neu, sie wird seit Jahren erhoben. Sie bleibt aber bislang unerhört, obwohl es eine derjenigen rechtspolitischen Forderungen ist, bei der sich Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte ausnahmsweise vollkommen einig sind.

Das Problem der finanziellen Ressourcen stellt sich natürlich auch für Rechtsanwälte, allerdings in einer anderen Weise. Denn während Richter und Staatsanwälte nach festen Beamtensätzen bezahlt werden, hängt der Verdienst der Rechtsanwälte – die in der Regel selbstständig oder zumindest wirtschaftlich abhängig sind – davon ab, wie viele Fälle sie schnell und effektiv bearbeiten.

Auch diejenigen Verteidiger, die das Glück haben, nicht über Mandantenmangel zu klagen, stehen immer wieder vor dem Problem, dass eine sachgerechte Bearbeitung eines Falles nur mit unverhältnismäßigem Aufwand möglich ist.

Das lässt sich wiederum am Fall Mollath verdeutlichen. Herr Mollath hatte unzählige Schreiben verfasst, in denen er seine Anschuldigung gegenüber der Bank bzw. seiner Ex-Frau darlegte. Das alles zu lesen nimmt viele Stunden, wenn nicht sogar Tage in Anspruch. Es ist einem Verteidiger – insbesondere wenn der Mandant kein Geld hat – fast unmöglich, eigene Ermittlungen beispielsweise im Hinblick auf mögliche Schwarzgeld-Verstrickungen von Zeugen durchzuführen. Auch ist die Überprüfung eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens mit sehr viel Zeitaufwand verbunden und effektiv meist nur zu bewerkstelligen, wenn genug Geld vorhanden ist, etwa um eigene Gutachter aufzutreiben, die auf fachlicher Ebene entgegenhalten können.

Hinzu kommt ein Problem im Zusammenhang mit der öffentlichen, insbesondere medialen Wahrnehmung eines Strafprozesses. Bezeichnet ein Verteidiger in der Hauptverhandlung eine Frau als Lügnerin, die behauptet, von ihrem Mann geschlagen worden zu sein, schlägt ihm in der Regel nicht gerade öffentliche Sympathie entgegen. Es bedarf viel Berufsethos und Standhaftigkeit, in einer derartigen Situation durch präzises Aktenstudium und sachliche Argumentation, als Verteidiger eine effektive Kontrollinstanz darzustellen.

Für die Tätigkeit als Pflichtverteidiger erhält man eine Vergütung, die in umstrittenen und schwierigen Verfahren in keinem Verhältnis zum tatsächlichen Arbeitsaufwand steht. Rechnet man die Zeit, die ein engagierter Anwalt in einem Verfahren, in dem es um Unterbringung geht, aufwenden muss, um wirklich gut zu sein, kommt man zu einem Stundensatz, der deutlich unter dem liegt, was derzeit als gesetzlicher Mindestlohn für Putzfrauen oder Hilfsarbeiter in der Landwirtschaft diskutiert wird.

(Der renommierte Strafverteidiger Gerhard Strate aus Hamburg, der die Verteidigung von Gustl Mollath in dem Wiederaufnahme-Verfahren übernommen hat, machte dies übrigens „pro bono“ – d.h. vorläufig ohne gesichertes Honorar. Dies kann sich allerdings nur jemand leisten, der bereits durch andere Mandate wirtschaftlich sehr erfolgreich ist. Im Übrigen könnte auch ein Star-Verteidiger wenig ausrichten, ohne die Joker, die in dem Fall mehr oder weniger zufällig bekannt wurden – wie etwa dem Bericht der Hypo-Vereinsbank oder das fehlerhafte ärztliche Attest, das letztlich den Einstieg in die Wiederaufnahme ermöglicht hatte).

Es wäre daher für eine Verbesserung des Strafprozesses von Nöten, dass die Gebühren für Pflichtverteidiger deutlich angehoben werden –etwa dadurch, dass man ihre Tätigkeit nach Stunden abrechnet, so wie es beispielsweise bei Dolmetschern der Fall ist.

Das Bundesverfassungsgericht hat übrigens einmal entschieden, dass die Übernahme einer Pflichtverteidigung ein anwaltliches „Ehrenamt“ sei. Es sei nicht erforderlich, dass ein Anwalt mit einem solchen Mandat Geld verdient; sogar Verluste seien hinzunehmen. Eine solche Auffassung eines anwaltlichen „Ehrenamtes“ wirkt aus heutiger Sicht wie ein Anachronismus. Es ist zu hoffen, dass sich auch im Denken des Bundesverfassungsgerichts bezüglich der Anwaltsvergütung etwas ändern wird.

 

4) Die Psychiatrie-Falle: Schnell rein, schwer wieder raus

Das Verfahren Mollath brachte bereits eine Gesetzgebungsdiskussion in Gange, die sich voraussichtlich nicht mehr aufhalten lässt. Seitdem ins öffentliche Bewusstsein gedrungen ist, wie leicht es ist, in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen zu werden und wie schwer es ist, dort wieder herauszukommen, wurden inzwischen sogar von verschiedenen Justizministerien Änderungsvorschläge gemacht.

So gibt es bereits jetzt Gesetzesentwürfe, wonach Unterbringungen häufiger durch unabhängige Sachverständige überprüft werden müssen. Dabei ist besonderes Augenmerk auf die Qualität der Gutachten zu legen. Im Fall Mollath entstand der Eindruck, dass ein Gutachter immer nur vom anderen abgeschrieben hatte. So etwas wird es in Zukunft hoffentlich nicht mehr geben.

Eine andere Thematik, mit der sich das Bundesverfassungsgericht kürzlich im Rahmen einer von Gustl Mollath erhobenen Verfassungsbeschwerde zu beschäftigen hatte, betrifft die Frage, ob bzw. unter welchen Voraussetzungen verhältnismäßig geringe Straftaten ein jahrelanges Wegsperren rechtfertigen. Man ist sich einig darüber, dass Herr Mollath angesichts der Vorwürfe, die gegen ihn im Urteil vom 08.08.2006 erhoben wurden, im Falle einer normalen strafrechtlichen Verurteilung (d.h. wenn er nicht für schuldunfähig erkannt worden wäre) das Gefängnis nach einigen Monaten Strafhaft auf Bewährung hätte verlassen können. Eine siebenjährige Inhaftierung wäre angesichts der vorgeworfenen Taten völlig undenkbar.

Mit Beschluss vom 26.08.2013 (2 BvR 371/12) hat das Bundesverfassungsgericht der Verfassungsbeschwerde, die gegen zwei Beschlüsse gerichtet war, die die Fortdauer der Unterbringung anordneten, stattgegeben. Das Bundesverfassungsgericht führte aus, dass die in den entsprechenden Beschlüssen aufgeführten Grünfde nicht genügen, um die Fortdauer der Unterbringung anzuordnen. Gustl Mollath sei hierdurch in seinem Grundrecht auf Freiheit der Person in Verbindung mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verletzt. Wie erwartet, führte das Bundesverfassungsegricht aus, dass sich bei langandauernden Unterbringungen das zunehmende Gewicht des Freiheitsanspruches auch auf die Anforderungen auswirke, die an die Begründung einer Fortdauer – Entscheidung zu stellen seien.

Bereits jetzt ist es so gut wie sicher, dass der Fall Mollath einige Verbesserungen im Bereich der forensischen Psychiatrie bewirken wird. Dies gibt Anlass zur Hoffnung.

 

5) Wer kontrolliert wen?

Es wurde bereits dargelegt, welche absurde Kleinigkeit (auf dem ärztlichen Attest waren die Buchstaben „i.V.“ zu klein geschrieben…) letztlich dazu führte, dass das Oberlandesgericht Nürnberg den Prozess gegen Gustl Mollath wieder aufrollen konnte. Auch dieses Gericht, das nun als der Hüter der Rechtsstaatlichkeit gefeiert wird, hat sich nicht dazu durchringen können, die anderen (viel schwerwiegenderen) neuen Tatsachen und Beweise als so gewichtig zu werten, dass sie eine Wiederaufnahme rechtfertigen.

An dieser Asymmetrie zeigt sich symptomatisch, dass die gesetzlichen Hürden, ein bereits rechtskräftiges Urteil nachträglich zum Kippen zu bringen, viel zu hoch sind.

Dieser Missstand führt nicht nur zu schwerem Unrecht gegenüber denjenigen, die fehlerhaft verurteilt wurden und keine Chance bekommen, rehabilitiert zu werden. Das restriktive Wiederaufnahmerecht führt auch zu einer schlechteren Qualität richterlicher Urteile. Denn ein Richter der sich sicher sein kann, dass sein Urteil „hält“, wird nicht gerade motiviert, sich um größtmögliche Sorgfalt und Genauigkeit zu bemühen. Dies gilt erst recht, wenn er selbst im Fall eines krassen Fehlurteils keine spürbaren persönlichen Konsequenzen zu fürchten hat.

Ein sehr einfacher, billiger und zeitgemäßer Weg, offensichtliche Fehlgriffe eines Gerichts zu korrigieren, wären Videoaufnahmen während laufender Hauptverhandlungen. Die technischen Mittel hierzu wären heutzutage problemlos zu schaffen. Wahrscheinlich wird eine audio-visuelle Dokumentation eines Prozesses in 50 Jahren eine Selbstverständlichkeit sein. Die immer noch – insbesondere von Richtern und Staatsanwälten – gegen Video-Aufnahmen vorgebrachten Argumente werden zukünftigen Juristengenerationen genauso absurd erscheinen, wie uns heute die „Argumente“ vorkommen, die noch vor wenigen Jahrzehnten gegen die Einführung des Frauenwahlrechts vorgebracht wurden.

Letztlich steht hinter der Abscheu bestimmter Kreise, „sich auf die Finger schauen zu lassen“, nichts anderes als die Angst, die Bequemlichkeit und Gewissheit, die mit der Ausübung einer Machtposition verbunden sind, zu verlieren. Ein starker Rechtsstaat braucht effektive Rechtsmittel und Wiederaufnahmemöglichkeiten nicht zu fürchten.

Derzeit werden Rechtsverstöße von Staatsanwälten und Richtern nur von Staatsanwälten und Richtern beurteilt. Jeder kennt das Phänomen, dass eine Krähe einer anderen kein Auge aushackt. Um dem entgegen zu steuern, wäre beispielsweise eine Art Berufsgericht denkbar, in dem neben Vertretern der eigenen Zunft auch Vertreter anderer juristischer Berufsgruppen (beispielsweise Anwälte, Professoren, Volksvertreter usw.) sitzen.

Unternehmen bedienen sich zur Aufklärung und Prävention von Straftaten im eigenen Hause in den letzten Jahren verstärkt eines Vertrauensanwaltes. Ein solcher (teilweise auch „Ombudsmann“ genannt), nimmt Hinweise entgegen und kann dem Hinweisgeber gleichzeitig Anonymität garantieren. Ein unabhängiges und effektives Kontroll- und Hinweis-System wird übrigens sogar von der Rechtsprechung gefordert – für Aktiengesellschaften. Es würde der Justiz gut zu Gesicht stehen, sich selbst diejenige Transparenz und Kontrolle aufzuerlegen, die sie für andere einfordert.

Wenn die Öffentlichkeit die Angestellten der Justiz als normale Menschen mit Fehlern und Schwächen wahrnimmt, die es zu kontrollieren gilt, ist dies eine begrüßenswerte Entwicklung. Das Bild vom unfehlbaren Richter und unbestechlichen Staatsanwalt ist eine Illusion. Je früher man sich von dieser Illusion verabschiedet, desto sachlicher und fairer wird der alltägliche Umgang miteinander werden.

(Am Rande bemerkt: Nimmt man Richter mehr als Menschen war, könnte dies auch dazu führen, dass diejenigen, die unbequeme Entscheidungen treffen, mit mehr Respekt wahrgenommen werden. Der Vorsitzende des Ersten Strafsenats am Oberlandesgericht Nürnberg, der jetzt – nachdem er die sofortige Freilassung von Gustl Mollath verfügte – als „Held der Rechtsstaatlichkeit“ gefeiert wird, hatte vor ein paar Jahren eine ähnliche Entscheidung getroffen, die aus Sicht fast aller Juristen nicht minder rechtsstaatlich und vorbildlich war. Damals war die Nürnberger Boulevard-Presse jedoch anderer Meinung. Ein Photo des Richters – der verheiratet ist und Kinder hat – wurde auf der Titelseite einer Zeitung abgedruckt und in einer diffamierenden Weise verzerrt. Die Journalisten wollten die Person des Richters an den Pranger stellen, der aus ihrer Sicht gemeingefährliche Verbrecher frei herumlaufen lässt.)

Dr. Tobias  Rudolph, Fachanwalt für Strafrecht

Nürnberg, August 2013

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