Fehlerkultur in der Justiz

– Wie die Justiz mit eigenen Fehlern umgeht –

Die reinste Form des Wahnsinns ist es, alles beim Alten zu belassen und zu hoffen, dass sich etwas ändert.

Albert Einstein

Thomas Fischer, Richter am Bundesgerichtshof in Strafsachen, hat im August 2013 den Fall Gustl Mollath zum Anlass genommen, über die Fundamente des Strafrechts nachzudenken. Der ehemalige Vorsitzende des 2. Strafsenats und wohl einflussreichste Strafrechtler Deutschlands schrieb in der Wochenzeitung „Die Zeit“(„Wahn und Willkür“, in: „Die Zeit“ vom 22. August 2013, S. 13): „Für Fehler sind Schuldige schnell gefunden. Für die Regeln sind wir alle verantwortlich.“

Diese Behauptung ist nur zur Hälfte wahr. Denn um Schuldige zu finden, muss man erst einmal die Fehler erkennen. Eben dies wird im deutschen Strafrecht systematisch verhindert.

Fehlerkultur in der Justiz

Was das Oberlandesgericht Nürnberg offen ließ

Für die Öffentlichkeit stand nach dem Bekanntwerden des Berichts der HypoVereinsbank schnell fest: Richter Brixner hat sich der Rechtsbeugung schuldig gemacht, die Gutachter waren korrupt, der ein oder andere Beteiligte war vielleicht sogar der internationalen Bankenmafia hörig.

All das ist möglich, jedoch nicht bewiesen. Man sollte mit Schuldzuweisungen gegenüber den Verfahrensbeteiligten dieselbe Zurückhaltung üben, die man auch jedem Angeklagten im Strafverfahren schuldet.

Zwar wurde das Wiederaufnahmegesuch, das Rechtsanwalt Gerhard Strate im Februar 2013 beim Landgericht Regensburg eingereicht hatte (Schriftsatz an das Landgericht Regensburg vom 19.02.2013), unter anderem auf den Vorwurf der Rechtsbeugung durch den Vorsitzenden Richter Brixner gestützt. In akribischer Aktenanalyse wurden zur Untermauerung dieses Vorwurfs zahlreiche Fehler bei der Vorbereitung des Verfahrens und der Durchführung der Hauptverhandlung dargelegt.

Die Entscheidung des Oberlandesgerichts Nürnberg, das im August 2013 (OLG Nürnberg vom 06.08.2013, Aktenzeichen 1 Ws 354/13 WA) die sofortige Freilassung von Herrn Mollath verfügt hatte, stützte sich indes ausschließlich auf eine zufällige Unklarheit in einem ärztlichen Attest. Man hat den Eindruck, dass die Richter am Oberlandesgericht froh darüber waren, einen unverfänglichen Wiederaufnahmegrund zu finden. Sie konnten es sich damit erlauben, über das im Raum stehende persönliche Fehlverhalten der Prozessbeteiligten vornehm den Mantel des Schweigens zu hüllen.

So sehr die Entscheidung des Oberlandesgerichts im Ergebnis zu begrüßen ist, offenbart die Vorgehensweise doch ein grundsätzliches Problem des deutschen Strafprozesses. Anstatt sich darum zu bemühen, aus Fehlern zu lernen, werden diese soweit wie irgend möglich vertuscht und verschwiegen. Man kann davon ausgehen, dass das für die Neuauflage des Prozesses zuständige Landgericht dieser Linie folgen wird.

Die Vorwürfe gegen die Prozessbeteiligten, die die Unterstützer von Herrn Mollath in aufwendigen Recherchen zusammengetragen hatten, werden folglich niemals in einem rechtsstaatlichen Verfahren aufgeklärt werden. Es wird keine Lehren geben, wie zukünftig solche Fehler zu vermeiden sind. Erst recht wird es keine persönlichen Konsequenzen für einzelne Beteiligte geben.

Rechtssicherheit?

Der Weg zu einem strafrechtlichen Urteil ist lang und steinig. Bis es dazu kommt, gilt es viele Hürden zu überwinden, die auch dazu dienen, Fehlurteile zu vermeiden. Über Verteidigungsmöglichkeiten während eines laufenden Prozesses wie etwa Beweisantragsrechte oder Rechtsmittel gibt es Bibliotheken. Umso erstaunlicher ist es, dass man sich im deutschen Strafprozess bisher kaum Gedanken darüber macht, welche Lehren zu ziehen sind, wenn es gleichwohl einmal zu einem Fehlurteil gekommen ist.

Man stelle sich vor, dass es zu einem Zugunglück mit Dutzenden von Toten kommt und die Deutsche Bahn den Standpunkt vertritt, um das Vertrauen der Bevölkerung in die Sicherheit des Schienennetzes nicht zu gefährden, sollen die Ursachen, die zu dem Unglück geführt haben, bewusst im Verborgenen bleiben. Besonders absurd wäre eine solche Haltung, wenn man sogar verbieten würde, Fehler der Ingenieure und des Personals auszusprechen oder zu analysieren – mit der Begründung, dass sich dann kein Mensch mehr trauen würde, mit der Bahn zu fahren.

Genau eine solche „Deckel-Zu-Mentalität“ liegt dem deutschen Justizsystem zu Grunde.

Zwar gibt es die Möglichkeit, ein Urteil zu Gunsten eines Angeklagten im Rahmen einer Wiederaufnahme nachträglich zu korrigieren. Beim Recht der Wiederaufnahme steht jedoch der Gedanke der Einzelfallgerechtigkeit im Vordergrund. Wenn nicht durch Zufall im Nachhinein bekannt wird, dass ein Urteil im Ergebnis schreiend ungerecht ist, landen selbst die krassesten Fehler von Gerichten auf dem Friedhof der Vergessenheit.

Unter dem inhaltsleeren Schlagwort „Rechtssicherheit“ wird seit dem vorletzten Jahrhundert systematisch verhindert, dass Fehler in gerichtlichen Verfahren im Nachhinein benannt – geschweige denn korrigiert – werden.

Die äußerst restriktive gesetzliche Ausgestaltung der Wiederaufnahmegründe – und die noch viel engherzigere Handhabung der gesetzlichen Voraussetzungen in der Praxis – werden damit begründet, dass es im Interesse des „Rechtsfriedens“ und des „Vertrauens der Bevölkerung in die Justiz“ läge, wenn Fehlurteile möglichst selten im Nachhinein als solche bezeichnet werden.

Es ist erstaunlich, dass sich eine solche Auffassung, die weit ins vorletzte Jahrhundert zurückreicht, bis in unsere Zeit fast unwidersprochen halten konnte.

Beratungsgeheimnis

In erstinstanzlichen Strafprozessen am Landgericht gehören neben Berufsrichtern auch Laien zum Gericht. Diese sogenannten Schöffen haben keine juristische Vorbildung. In der geheimen Beratung des Gerichts hat ihre Stimme dasselbe Gewicht wie das der Berufsrichter.

Einer der Laienrichter, der im August 2006 in dem Prozess gegen Herrn Mollath beteiligt war, schilderte 2013 gegenüber einem Fernsehteam, wie Richter Brixner in der Verhandlung reagierte, wenn Schwarzgeldgeschäfte der Ex-Frau zur Sprache kamen (vgl. dazu etwa Süddeutsche Zeitung vom 15. November 2012, „Nach Unterbringung in Psychiatrie- Schöffe kritisiert Mollath-Verfahren“). Der Vorsitzende stellte dann in einem cholerischen Tonfall klar, es gehe in dem Prozess um Körperverletzung und Sachbeschädigung, nicht aber um Geldwäsche.

Eine solche Haltung – hier einmal unterstellt, die Darstellung des Schöffen ist wahr – wäre natürlich absurd. Denn die Frage, ob die einzige Belastungszeugin ein Motiv hat, ihren Ex-Mann „in die Psychiatrie zu schicken“, ist für ihre Glaubwürdigkeit von erheblicher Bedeutung. Darüber hinaus wurden die Schwarzgeld-Vorwürfe des Herrn Mollath – die sich später in wesentlichen Teilen als zutreffend herausstellten – in dem Urteil als Anknüpfungspunkt für angebliche Wahnvorstellungen des Angeklagten verwendet (vgl. das Original-Urteil aus dem Jahr 2006). Schon deshalb hätte das Gericht nicht einfach darüber hinweg gehen dürfen.

Der Schöffe, der sich nun im Nachhinein zu Wort gemeldet hat, hat den Journalisten nicht erzählt, ob er sein Unbehagen über die Art der Prozessführung durch den Vorsitzenden auch schon 2006 – bei der internen Urteilsberatung des Gerichts – geäußert hat. Darüber darf er nichts sagen. Er unterliegt dem sogenannten Beratungsgeheimnis.

Über den Inhalt der Beratungen und das Abstimmungsergebnis wird nichts öffentlich bekannt. Nach der geltenden Gesetzeslage handelt es sich dabei um interne Angelegenheiten des Gerichts, die niemanden etwas angehen.

Das Beratungsgeheimnis darf nach gegenwärtiger Rechtslage nur in seltenen Ausnahmen durchbrochen werden, etwa wenn ein beteiligter Richter sich wegen Rechtsbeugung strafbar gemacht hat. Angesichts der immens hohen rechtlichen Hürden die genommen werden müssten, um einem Richter eine Rechtsbeugung nachzuweisen (diese Hürden wurden im Fall Mollath bisher von keinem Gericht und keiner Staatsanwaltschaft bejaht), kommt es in der Realität nicht vor, dass ein Richter aus dem Kollektiv des Schweigens ausbricht.

Im Fall Mollath wird niemals aufgeklärt werden, ob das Thema Schwarzgeld in der richterlichen Beratung diskutiert wurde. Genauso wenig wird die Öffentlichkeit jemals erfahren, ob sich alle vier Richter einig waren, dass Herr Mollath in die Psychiatrie weggesperrt werden soll.

Erfahrung macht nicht immer klug

Im Gerichtsalltag kommt es äußerst selten vor, dass ein Beisitzer oder Schöffe das Wort ergreift und sich explizit gegen die Art und Weise der Verhandlungsführung durch den Vorsitzenden wendet.

Es kann davon ausgegangen werden, dass der Vorsitzende auch bei der internen Urteilsabstimmung derjenige ist, der am meisten Einfluss ausübt. Denn er verfügt in der Regel über die meiste Berufserfahrung.

Richter Brixner, der Vorsitzende der 7. Strafkammer, die im Jahr 2006 das Urteil gegen Gustl Mollath gesprochen hatte, war ein erfahrener – und in gewisser Weise auch charismatischer –  Richter.

In sehr vielen Berufen ist es durchaus von Vorteil, wenn Personen am Werk sind, die über ein großes Maß an Erfahrung verfügen. Dies dürfte beispielsweise bei Gehirnchirurgen oder Piloten der Fall sein.

Deren Tätigkeiten zeichnen sich durch drei Faktoren aus:

  1. Sie arbeiten in einer Umgebung, in der potenzielle Gefahren hinreichend regelmäßig sind, um vorhersehbar zu sein.
  1. Wer einen individuellen Fehler macht, wird diesen unverzüglich erkennen, da er ein sofortiges Feedback erhält. Es besteht Gelegenheit, sich durch langjährige Übung der eigenen Fehleranfälligkeit immer wieder bewusst zu werden.
  1. Jeder Fehler wird umgehend von einer breiten Öffentlichkeit und internationalen Fachwelt analysiert. Potenzielle Fehlerquellen werden dokumentiert und publiziert.

Hirnblutungen oder Gewitter lassen sich zwar niemals sicher voraussagen. Es gibt jedoch eine ganze Reihe von statistischen Erfahrungswerten, die es beispielsweise einem Piloten erlauben, auf Auffälligkeiten des Wetters zu achten und frühzeitig darauf zu reagieren. Wenn er dies einmal nicht tun sollte, wird sein Flugzeug in drastische Gefahr geraten.

Kopiloten sind dazu angewiesen, im Fall einer Verletzung der Regeln sofort einzugreifen und schonungslos jedes Fehlverhalten des Hauptverantwortlichen zu dokumentieren.

Wenn es einmal zu einem Absturz – oder auch nur einer konkreten Gefährdungslage – kommt, wird ein Heer von Technikern und Wissenschaftlern in der ganzen Welt alles daran setzen, die Ursachen aufzuklären. Je mehr Berufserfahrung ein Pilot mitbringt, desto mehr Wissen über Fehler von Kollegen eignet er sich im Laufe seines Lebens an. Dieses ermöglicht ihm, ein feineres Gespür für die eigenen menschlichen Unzulänglichkeiten zu entwickeln.

Die Situation eines Richters ist eine völlig andere. Wenn es darum geht, die Wahrheit einer Zeugenaussage einzuschätzen, gibt es keine Regelmäßigkeit. Seit Jahren versuchen Psychologen, greifbare Kriterien dafür zu entwickeln, woran man eine auf Tatsachen beruhende Zeugenaussage von einer solchen unterscheiden kann, die auf einer bewussten Lüge oder – was gar nicht so selten vorkommt – auf einem Irrtum beruht. Die dabei entwickelten Kriterien haben inzwischen auch in die Rechtsprechung Einzug gefunden (vgl. grundlegend das Urteil des BGH vom 30. Juli 1999, Aktenzeichen 1 StR 618/98).

Bauchgefühl

Im Ergebnis hören Richter bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit einer Person letztendlich jedoch immer noch oft auf ihr Bauchgefühl (vgl. hierzu die Untersuchung von M.K. Dhani, Psychological models of professional decision making, in: Psychological Science (2003), 14, S. 175-180). Nichts anderes gilt, wenn eine Prognose darüber gemacht werden soll, ob ein Mensch in Zukunft Straftaten begehen wird, die so schwerwiegend sind, dass sie einen langfristigen Freiheitsentzug rechtfertigen.

Das Problem dabei ist: Die Intuition ist ein schlechter Ratgeber!

So wie Menschen leicht durch optische Täuschungen oder Zaubertricks hinters Licht zu führen sind, sind auch die Prozesse trügerisch, die ablaufen, wenn man einen Menschen aus dem Bauch heraus beurteilt. Es verhält sich nicht anders als bei der ersten Begegnung mit einer potenziellen großen Liebe. In 90 % aller Fälle ist es erstaunlich, wie das Gehirn innerhalb von Sekundenbruchteilen grundlegende Eigenschaften eines Mitmenschen zutreffend erfassen kann. Bei den verbleibenden 10 % lässt sich die Intuition aufs Glatteis führen – mit verhängnisvollen Folgen.

Richter sind bei der Prognose der Gefährlichkeit eines Angeklagten oder bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit eines Zeugen nicht erfahrener als Laien. Denn selbst wenn sie bereits zahlreiche Urteile gefällt haben, fehlt es ihnen am unmittelbaren Feedback, anhand dessen sie ihre Fähigkeiten weiter entwickeln könnten (vgl. dazu die Dissertation von Mark Daniel Schweizer „Kognitive Täuschungen vor Gericht. Eine empirische Studie“ (Zürich 2005), S. 262 f.: „Die Kalibrierung von Experten ist derjenigen von Laien typischerweise nur überlegen, wenn der Experte eine schnelle, unmissverständliche Rückmeldung erhält, ob seine Voraussage richtig gewesen ist – wie dies beispielsweise bei Meteorologen der Fall ist.“ Bei Richtern ist dies nicht der Fall).

Es gibt gleichwohl einen signifikanten Unterschied zwischen Profis und Laien: Die vermeintlichen Spezialisten sind von ihrem eigenen Urteil sehr viel mehr überzeugt, als es die Nicht-Experten sind. Mit anderen Worten: Je erfahrener ein Richter, desto größer ist die Gefahr, dass er seine eigene Kompetenz überschätzt.

Eine Studie, in der die Beeinflussbarkeit von deutschen Richtern durch den sogenannten Ankereffekt gemessen wurde, findet sich bei Englich, „Blind or Biased? Justitia’s Susceptibility to Anchoring Effects in the Courtroom Based on Given Numerical Representations”, LAW&POLICY (2006), S. 497 ff. (508). Keiner der getesteten Richter war sich seiner Beeinflussbarkeit bewusst. Je erfahrener ein Richter war, desto mehr war er jedoch (irrtümlich!) subjektiv davon überzeugt, in seiner Entscheidung von dem vorgegebenen Anker unbeeinflusst gewesen zu sein. Vom Ankereffekt spricht man, wenn eine Schätzung durch eine Zahl beeinflusst wird, die kurz zuvor genannt wurde (Bsp.: „Wie viele Liter Kraftstoff passen in einen Jumbo-Jet? Sind es mehr als 3.000 Liter“ oder „Sind es mehr als 300.000 Liter?“ Je nach Art der Fragestellung ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass die Schätzung von der vorgegebenen Zahl beeinflusst wird. Das ist bei Urteilen nicht anders („Wird der Angeklagte eine Freiheitsstrafe von mehr als sieben Jahren bekommen“).

Die Tatsache, dass die Verurteilten im Gefängnis oder in der Psychiatrie landen, ist kein zuverlässiger Indikator. Denn insoweit geht es einem Richter nicht anders als einem Arzt, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts intuitiv zu ahnen glaubte, wann Patienten im Begriff waren, Typhus zu entwickeln. Der Arzt überprüfte seine Diagnose, indem er die Zungen der verdächtigen Patienten nacheinander abtastete, ohne sich zwischendurch die Hände zu waschen. Nachdem alle Patienten, die auf diese Weise untersucht worden waren, früher oder später an der tödlichen Infektionskrankheit starben, war der Arzt zutiefst davon überzeugt, ein untrügliches diagnostisches Gespür zu besitzen (Das Beispiel stammt von Lewis Thomas und wird von Daniel Kahneman in seinem Bestseller „Schnelles Denken, Langsames Denken“, 2011, S. 297, zitiert).

Nicht anders erginge es einem Richter, der sein subjektiv empfundenes Gespür für Wahrheit und Gerechtigkeit darauf stützt, dass alle von ihm Verurteilten auch tatsächlich weggesperrt wurden.

Auch die anderen Bedingungen, die helfen würden, durch Erfahrung klug zu werden, liegen bei Richtern nicht vor. Die „Kopiloten“ – also die Beisitzer und Schöffen – werden nicht nur nicht gerade ermutigt, Fehler eines Kollegen auszusprechen. Unter dem Schlagwort „Beratungsgeheimnis“ wird es ihnen sogar verboten.

Das Schlimmste von allem aber ist – und das macht den Beruf des Richters zu einem der schwierigsten in der Welt: Ein Richter wird – wenn überhaupt – nur in seltenen Ausnahmefällen ein verlässliches Feedback darüber erhalten, ob er mit seiner Entscheidung richtig gelegen hat.

Daniel Kahneman hat „Schnelles Denken, Langsames Denken“ (2011) die Bedingungen zusammengefasst, die für den Erwerb von Expertise erfüllt sein müssen (S. 296): (1) Eine Umgebung, die hinreichend regelmäßig ist, um vorhersagbar zu sein. (2) Eine Gelegenheit, diese Regelmäßigkeiten durch langjährige Übung zu erlernen.

Wenn ein Pilot einen Fehler macht, wird er sofort merken, dass das Flugzeug ins Taumeln gerät. Ein Hirnchirurg, der seine eigenen Fähigkeiten überschätzt, wird spätestens dann eines Besseren belehrt werden, wenn der Patient an einer Hirnblutung stirbt. Ein Richter hingegen wird niemals erfahren, welche der von ihm im Laufe seines Lebens verurteilten Angeklagten in Wirklichkeit unschuldig (oder nur zum Teil schuldig) waren.

Wer durch einen richterlichen Fehler seine Freiheit verloren hat und einigermaßen clever ist, wird seinen Mund halten. Beharrt er nämlich nach Jahren der Inhaftierung immer noch auf seiner Unschuld, hat er kaum Chancen auf eine vorzeitige Haftentlassung oder eine positive Prognose im Rahmen einer psychiatrischen Begutachtung.

Eine wissenschaftliche Korrektur von Fehlern findet ebenfalls nicht statt. Selbst wenn richterliches Fehlverhalten nachträglich bekannt würde (so wie dies im Fall Mollath nahe liegt), gibt es keine Institution, die sich systematisch mit der Aufarbeitung und Beseitigung potenzieller Fehlerquellen beschäftigt.

Ein Richter am Landgericht wird zwar durch die Revisionsinstanz kontrolliert. Ob eine Zeugenaussage zutreffend ist, wird im Revisionsverfahren durch den Bundesgerichtshof jedoch nicht überprüft. Das oberste deutsche Strafgericht begnügt sich damit, handwerkliche Fehler in den schriftlichen Urteilsgründen auszusprechen. So mag ein Richter mit zunehmender Berufserfahrung eventuell besser darin werden, das, was er persönlich für richtig hält, auch geschickt darzustellen. Er wird daher immer weniger Gefahr laufen, durch das Revisionsgericht aufgehoben zu werden. Der Grad der Wahrheit erhöht sich durch diesen Mechanismus nicht. Eher das Gegenteil ist der Fall: Je genauer ein Richter weiß, was er schreiben muss, damit sein Urteil „hält“, desto geschickter wird er darauf achten, was er in die Urteilsgründe hineinschreibt – und was nicht.

In dem Buch von Thomas Darnstädt „Der Richter und sein Opfer. Wenn die Justiz sich irrt“ (2013) findet sich ein Interview mit dem Vorsitzenden Richter des 2. Strafsenats am Bundesgerichtshof, Thomas Fischer, der einräumt (S. 278): „Es geht in der Revisionsinstanz noch viel weniger als in der Tatsacheninstanz um einen direkten Zugriff auf die Wahrheit, sondern beinahe immer nur um deren Darstellung im Urteil – die kann gut oder schlecht sein –, gleichgültig, was wirklich war.“

Eine kurze Geschichte der Katastrophe

Im Folgenden soll ein Vorschlag gemacht werden, wie man die Wahrheitsfindung bei Gericht ohne großen Aufwand verbessern könnte. Zwar sind die antiquierten Konzepte von „Rechtssicherheit“ und „Beratungsgeheimnis“ so tief in den Köpfen deutscher Juristen verwurzelt, dass der Vorschlag auf den ersten Blick gewagt erscheinen mag. Doch auch die längste Reise beginnt mit dem ersten Schritt.

Der Psychologe und Träger des Nobelpreises für Wirtschaftswissenschaften Daniel Kahneman beschreibt in seinem Buch „Schnelles Denken, Langsames Denken“ eine Methode, mit der unternehmerische Entscheidungen einer kritischen Würdigung unterzogen werden können, bevor es zu spät ist.

Daniel Kahneman „Schnelles Denken, Langsames Denken“ (2011), S. 326. Die sogenannte Prä-mortem-Methode geht auf Gary Klein zurück. S.a. Kahneman, Lovallo, Sibony: „The Big Idea: Before You Make That Big Decision“, Harvard Business Reviev, Juni 2011

Man braucht sich nur auf ein hypothetisches Gedankenexperiment einzulassen: „Stellen Sie sich vor, wir befinden uns ein Jahr in der Zukunft. Wir haben den Plan in seiner jetzigen Fassung umgesetzt. Das Ergebnis war eine Katastrophe. Nehmen Sie sich bitte fünf bis zehn Minuten Zeit, um eine kurze Geschichte dieser Katastrophe zu schreiben.“

Die Ausgangssituation bei der Abstimmung des Vorstandes einer Aktiengesellschaft ist mit derjenigen, in der sich die Kammer eines Landgerichts bei der Urteilsberatung befindet, durchaus vergleichbar. Mehrere Personen treffen eine folgenschwere Entscheidung. Es gibt Dinge, die man weiß, es gibt Dinge, die man nicht weiß und es gibt Dinge von denen man nicht weiß, dass man sie nicht weiß (zu letzteren dürfte der Revisionsbericht der HypoVereinsbank im Fall Mollath im Jahr 2006 zu zählen sein). Ein charismatischer Vorsitzender gibt die Richtung vor, die Öffentlichkeit erwartet schnelle Ergebnisse und jede Verzögerung würde teuer.

Die Methode stellt sicher, dass alle Fakten erkannt und bewertet werden. Berechtigten Zweifeln wird Gehör verschafft; sie gehen nicht im Gruppenzwang unter. Die Gefahr, dass fehlerhafte Informationen, Vorurteile oder sachfremde Motive die Entscheidung beeinflussen, wird minimiert.

Das Modell lässt sich auf Gerichtsentscheidungen übertragen. Jeder Mitwirkende – Berufsrichter und Schöffe – sollte schriftlich und schonungslos einige Fragen beantworten, unter der Prämisse, dass das Urteil, das heute gefällt werden soll, sich in einigen Jahren als verheerendes Fehlurteil herausstellt. Es ist also in einem Gedankenexperiment eine Art Katastrophen-Protokoll anzufertigen, mit der die (bislang nur hypothetische) Geschichte eines Fehlurteils geschildert wird.

Welche Tatsachen wurden ignoriert oder ausgeklammert? Welcher Prozessbeteiligte hätte auf welche Weise verhindern können, dass es zu der Fehlentscheidung kommt? Welche Verfahrensregeln wurden missachtet? Inwieweit ist die eigene Beweisführung lückenhaft, mit Denkfehlern behaftet oder von Vorurteilen geprägt?

Man stelle sich vor, bei der Beratung der 7. Strafkammer des Landgerichts Nürnberg-Fürth im August 2006 wären solche Protokolle angefertigt worden. Es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich vorzustellen, was da beispielsweise hätte drin stehen können.

„Richter Brixner hatte gegenüber den Steuerbehörden schon vor Beginn des Prozesses klargestellt, dass er Herrn Mollath für einen ‚Spinner‘ hält und dadurch verhindert, dass die Finanzfahnder die Hinweise auf Schwarzgeldgeschäfte ernst nahmen.“

„Naheliegende Motive der einzigen Belastungszeugin, ihren Ehemann ‚in die Psychiatrie zu bringen‘, wurden ignoriert.“

„Es passte einfach zu gut ins Bild, dass ein unbequemer Mensch auch ein Lügner sein muss.“

Mir schwebt vor, ein solches Protokoll für Richter, Schöffen und auch Staatsanwälte zur Pflicht zu machen. Angeklagte, Verteidiger – aber auch Sachverständige, Nebenkläger und Zeugen – sollten darüber hinaus die Möglichkeit haben, ein entsprechendes Protokoll freiwillig anzufertigen.

Die Protokolle sollten in gerichtliche Verwahrung genommen werden und zunächst einmal niemandem zugänglich sein. Sie entfalten ihre Wirkung schon dadurch, dass sie überhaupt angefertigt werden. Dies aus zwei Gründen:

Zum einen würden Mitglieder des Gerichts mit wenig Durchsetzungsvermögen mehr Mut entwickeln, ihre Bedenken zu äußern.

Zum anderen würde sich keiner der Beteiligten mehr unangreifbar fühlen. Jeder müsste damit rechnen, dass die Fehler, die er heute begeht, ihn irgendwann doch noch einholen.

Ein solches Bewusstsein würde zu einer deutlich höheren Sorgfalt führen, als sie von einem Richter zu erwarten ist, der davon ausgehen kann, niemals persönliche Verantwortung für seine eigene Entscheidung übernehmen zu müssen.

Man könnte die derart angefertigten „Katastrophen-Protokolle“ nach Ablauf einer gewissen Zeit dem Angeklagten zur Verfügung stellen. Es wäre dann dessen freie Entscheidung, ob sie vernichtet werden oder beispielsweise einer Forschungsstelle zur Verfügung gestellt werden.

Ralf Eschelbach, ein Richter am Bundesgerichtshof in Strafsachen, bezeichnete das Gerücht, dass es „kaum falsche Strafurteile“ gebe, als „Lebenslüge der Justiz“ (vgl. Spiegel-Online vom 24. April 2013: „Justizirrtümer: Blind vor der Wahrheit“; vgl. auch Sabine Rückert, in Die Zeit vom 11. Juli 2011 „Lügen, die man gerne glaubt“.

Eine wissenschaftliche Auswertung der „Katastrophen-Protokolle“ könnte einen Anhaltspunkt dafür bieten, wie gravierend diese Lebenslüge wirklich ist.