(Fortsetzung des Kommentars „Der Fall Mollath“

von RA Dr. Tobias Rudolph)

(Teil 3)

 

VI. Schwachstellen des Systems

Im Folgenden werden einige Missstände der deutschen Strafprozesspraxis aufgelistet, die (mehr oder weniger) auch im Fall Mollath eine Rolle spielten. Teilweise lassen sich diese Missstände auf eine veraltete oder nicht sachgerechte Gesetzeslage zurückführen. Zum großen Teil gehen Fehlerquellen allerdings auf eine fragwürdige Handhabung der bestehenden Gesetze durch Richter und Staatsanwälte in der Praxis zurück (auch Rechtsanwälte bzw. Strafverteidiger spielen dabei nicht immer eine glückliche Rolle).

Manche der Missstände könnten durch eine kritische Grundhaltung der Beteiligten sofort geändert werden. In anderen Punkten erscheint der Ruf nach einer Änderung der Gesetzeslage derzeit noch wie eine Utopie. Doch auch die größte Reise beginnt mit dem ersten Schritt – und dieser besteht darin, erst einmal ein allgemeines Bewusstsein für die Unzulänglichkeiten des Strafprozesses zu schaffen.

 

1) Richter und Staatsanwälte – ein Team, das zusammenhält

Um in Bayern Richter zu werden, muss man in der Regel erst einmal Staatsanwalt sein. Das bayerische Justizministerium stellt Absolventen ausschließlich danach ein, ob sie die sogenannte „Staatsnote“ im zweiten Staatsexamen erreicht haben. Auf Lebenserfahrung, Charakter, Rechtsstaattreue und menschliche Qualitäten wird praktisch kein Wert gelegt.

In der Regel beginnen junge Juristen, die in den Staatsdienst kommen, als Staatsanwälte und durchlaufen dann verscheiden Stationen an den Gerichten. Es findet ein regelmäßiger Wechsel durch verschiedene Abteilungen und Referate statt. Die Staatsbediensteten sollen mehrere Lebensbereiche kennenlernen und auch verschiedene Funktionen ausfüllen.

Selbst Absolventen mit Spitzennoten werden in der Regel nur innerhalb der ersten drei Jahre nach Beendigung ihrer Ausbildung eingestellt. Wer sich unmittelbar nach Abschluss des Staatsexamens dazu entschieden hat, Rechtsanwalt zu werden oder in einem Unternehmen zu arbeiten, dem bleiben nach Ablauf der genannten Zeitspanne die Türen zur Justiz für immer verschlossen.

Nach meiner Auffassung führt diese Rekrutierung der Richter und Staatsanwälte zu einem unglücklichen Selbstverständnis der Akteure. Denn wer heute Staatsanwalt ist, wird dem Richter, der ihm gegenüber sitzt, im Zweifel noch oft begegnen. Abgesehen davon, dass bei den meisten bayerischen Staatsanwaltschaften die Richterschaft und die Staatsanwälte in denselben Räumlichkeiten angesiedelt sind und sich jeden Tag in der Kantine begegnen, findet eine ständige Personalrochade statt. D.h. wer heute Staatsanwalt ist, kann sich morgen als Beisitzer neben dem Vorsitzenden des Landgerichtes befinden, dem er einige Wochen zuvor noch als Gegenspieler begegnete.

Durch die personelle Durchmischung von Richtern und Staatsanwälten findet eine Gewaltenteilung zwischen diesen beiden Institutionen faktisch nicht statt. Dies ist in anderen Bundesländern zwar teilweise anders. Für ganz Deutschland lässt sich jedoch konstatieren, dass Richter oder Staatsanwälte, die auch einmal die Perspektive des Rechtsanwalts erlebt haben, so gut wie nicht existieren.

In anderen westlichen Demokratien ist das anders. Wer sich hier einmal dazu entscheidet, Staatsanwalt zu werden, der bleibt dies in der Regel für den Rest seines Lebens. Richter werden in vielen fortschrittlichen Demokratien gewählt oder ernannt, wenn sie sich als Rechtsanwälte (oder auch als Staatsanwälte) nach jahrelanger Berufserfahrung besonders hervorgetan haben. Neben der fachlichen Qualifikation spielen dabei Akzeptanz im Kollegenkreis, das öffentliche Ansehen und die beruflichen Erfolge eine Rolle.

Ich stelle die These auf, dass sich das Selbstverständnis von Richtern und Staatsanwälten drastisch verändern würde, wenn diese erst einmal ein paar Jahre als Rechtsanwälte gearbeitet hätten. Wer sich in der freien Wirtschaft und im persönlichen Kontakt mit dem Mandanten behaupten muss, lernt zwangsläufig zuzuhören. Rechtsanwälte sind ständigen Haftungsrisiken – und nicht selten dem Risiko der Strafverfolgung – ausgesetzt. Es gibt ganze Bibliotheken voll Literatur über die Grenzen zulässigen Verteidigerverhandelns und darüber, welche Konsequenzen einem Rechtsanwalt drohen, der gegen das Berufsrecht oder Strafgesetze verstößt. Derartige Verstöße werden häufig, schnell und effektiv geahndet.

Völlig anders sieht es in der gegenwärtigen Situation bei Richtern und Staatsanwälten aus. Unter Staatsanwälten gilt es beispielsweise als völlig normal, dass man gegen ein Urteil eines Amtsgerichtes in Berufung geht, wenn man damit rechnet, dass der Angeklagte dies auch tut. Dies geschieht nur deshalb, um es dem Angeklagten möglichst schwer zu machen, seine Position vor Gericht noch einmal überprüfen zu lassen. Staatsanwälte, die so handeln verstoßen damit eindeutig gegen zwingende rechtliche Regelungen (vgl. Nr. 147 RiStBV). Gleichwohl scheitern in der Praxis fast alle Versuche, dieser schon fast zur Gewohnheit gewordenen Missachtung des Rechts entgegen zu wirken.

Eine ähnliche Unsitte bei Richtern ist es beispielsweise, einem Angeklagten in der Hauptverhandlung eine Haftstrafe ohne Bewährung anzudrohen, wenn er nicht die vermeintlich begangene Tat gesteht. Es werden bei nicht geständigen Angeklagten unverhältnismäßig hohe Strafen verhängt. Die Kluft des Strafrahmens zwischen geständigen Angeklagten und nicht geständigen Angeklagten lässt sich häufig nur damit erklären, dass diejenigen Beschuldigten, die auf ihre Unschuld beharren, klein gemacht werden sollen. Ihre Verteidigungsmöglichkeiten werden beschnitten.

Jeder Strafverteidiger hat es schon erlebt, dass nach einer umfangreichen Beweisaufnahme vor einem Landgericht im Urteil Zeugenaussagen ganz anders wiedergegeben werden, als er diese selbst in Erinnerung hat. Manchmal fehlen entscheidende Passagen, die aus Sicht der Verteidigung zwingend zu einer ganz anderen Beurteilung der Rechtsfolgen führen müssten. Dieses Gefühl, „in einem anderem Film gesessen zu haben“, kann verschiedene Ursachen haben. Zum einen liegt es an den verschiedenen Prozessrollen, dass man unterschiedliche Sachverhalte unterschiedlich wahrnimmt. Es gibt eine ganze Reihe von wissenschaftlich-psychologischen Untersuchungen darüber, wie sehr die Wahrnehmung von Fakten von der Perspektive und von der Art und Weise, wie man die Fakten präsentiert bekommt, abhängen kann.

Differenzen in der Erinnerung von Verteidigern und Gericht mögen zum Teil diesen unterschiedlichen Wahrnehmungen geschuldet sein. Hätte ein Richter jedoch ein paar Jahre seines Lebens Erfahrungen als Verteidiger gesammelt, würde sich seine Wahrnehmung mit Sicherheit verändern. Er würde höchstwahrscheinlich ein feineres Gespür für die entlastenden Momente einer Beweisaufnahme entwickeln.

Immer wieder kommt allerdings auch der Eindruck auf, dass die Lücken bzw. Abweichungen in Urteilen absichtlich entstehen, nach dem Motto „Was nicht passt, wird passend gemacht“. Manch ein Referendar, der während seiner Ausbildungszeit die Ergebnisse der Beweisaufnahme im Urteil so wiedergegeben hat, wie sie tatsächlich stattgefunden haben, musste sich vom Ausbilder sagen lassen „Das wird gestrichen – sonst machen wir uns unnötig angreifbar….“.

Richter, die so etwas tun, mögen im guten Glauben handeln, auf diese Weise das Verfahren effektiver zu gestalten und im Ergebnis ohnehin richtig zu urteilen. In Wirklichkeit ist eine solche Haltung aber Ausdruck einer unsäglichen kriminellen Arroganz. Ein Richter, der bewusst Zeugenaussagen falsch oder unvollständig wiedergibt, hält sich für unfehlbar. Das ist die Quelle für eklatante Fehlurteile zu Lasten Unschuldiger.

Das Problem solcher Falschdarstellungen in Urteilen (aus welchen Motiven heraus sie auch zustande gekommen sein mögen) ist, dass sie kaum korrigiert werden können. Denn in der Revision durch das Oberlandesgericht oder den Bundesgerichtshof werden die Urteilsgründe, so wie sie durch das Gericht niedergeschrieben werden, als unumstößlich hingenommen. D.h. der Verteidiger hat kaum Chancen, ein Urteil mit der Behauptung aufzuheben, ein Zeuge habe so etwas nicht gesagt bzw. einen Sachverhalt ganz anders geschildert. Die Revisionsrichter in Karlsruhe schmettern derartige Rügen meist mit dem lapidaren Hinweis ab, dass es nicht ihre Aufgabe sei, die Hauptverhandlung zu rekonstruieren.

In den wenigen Fällen, in denen es gelingt, die Sachverhaltsdarstellung in einem Urteil anzugreifen, hat es praktisch nie Konsequenzen für die Richter, die das Fehlurteil zu verantworten haben. Sie machen weiterhin Karriere. Die Aufhebung eines Urteils schadet in der bayerischen Justizleiter allenfalls dann, wenn das aufgehobene Urteil zu Gunsten eines Angeklagten lautete. Hat ein Richter hingegen einen Angeklagten unschuldig verurteilt oder unangemessen hart bestraft, so hat das auf seine beamtenrechtliche Beurteilung kaum negativen Einfluss.

Abgesehen davon, dass es für fahrlässige oder vorsätzliche Rechtsverstöße durch Richter und Staatsanwälte praktisch keine dienstrechtlichen Konsequenzen gibt, haben sie erst recht keine persönlichen Konsequenzen zu fürchten – beispielsweise in Form einer Schadensersatzhaftung. Während Anwälte jeden Schritt, den sie zu verantworten haben, immer unter der möglichen Konsequenz einer persönlichen finanziellen Haftung überdenken müssen, gibt es in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland praktisch keinen einzigen Fall, in dem es zu einer persönlichen Haftung durch einen Richter oder Staatsanwalt gekommen wäre.

Es gibt ein afrikanisches Sprichwort „Wenn du von allen behandelt wirst, wie ein Huhn, dann glaubst du irgendwann selbst, du seist ein Huhn“. So verhält es sich mit bayerischen Richtern und Staatsanwälten: Wenn sie von allen behandelt werden, als ob sie unfehlbar und unangreifbar seien, so fühlen sie sich früher oder später auch unfehlbar und unangreifbar.

Um einem Missverständnis vorzubeugen: Hier soll nicht gesagt werden, dass Richter oder Staatsanwälte mehr oder weniger kriminell oder schludrig sind, als Rechtsanwälte, insbesondere Strafverteidiger. Aus Sicht der Justizangehörigen wird manchmal sogar das Gegenteil behauptet, nämlich das Rechtsanwälte, die im Wettbewerb untereinander stehen und häufig einem finanziellen Druck ausgesetzt sind, eher verführbar sind, ihre Grenzen in strafbarer Weise zu überschreiten.

Doch selbst wenn man davon ausgeht, dass der Beruf des Strafverteidigers ständig mit der Gefahr verbunden ist, Gesetze zu verletzen, und auch wenn man konzediert, dass es in der Szene sicherlich auch einige „schwarze Schafe“ gibt, lässt sich jedoch eines festhalten: Gesetzesverstöße durch Rechtsanwälte werden fast immer schnell und schonungslos geahndet. Häufig sind es Kollegen selbst, die derartige Verstöße rügen.

Wird eine Gesetzesverletzung durch einen Anwalt bekannt, wird sofort die Rechtsanwaltskammer eingeschaltet, die keine schwarzen Schafe in ihren Reihen duldet. Auch die Hemmschwelle der Justiz, gegenüber Anwälten zu ermitteln, liegt tief. Darüber hinaus gibt es eine ganze Armee von Anwälten, die sich auf Schadensersatzforderungen gegen Kollegen spezialisiert haben. Fehler von Rechtsanwälten haben daher so gut wie immer nicht nur berufs- oder strafrechtliche Konsequenzen, sondern auch ganz konkret spürbare finanzielle Folgen für die Verantwortlichen.

Vergleichbare Sicherungs- und Korrekturmechanismen sucht man für Verfehlungen von Richtern und Staatsanwälten vergeblich.

 

Warum ist das System so wie es ist?

Die Verantwortlichen in den Justizministerien sind nicht naiv. Die Art und Weise, wie der Justiz-Nachwuchs rekrutiert wird, ist kein Zufall. Es soll das Gefühl der Zusammengehörigkeit geschaffen werden. Richter und Staatsanwälte sollen sich als Teil eines besonderen Teams fühlen – stark, geschlossen und unangreifbar. Dieses Bild soll auch nach außen vermittelt werden.

Das Problem dabei ist, dass diese Eigenschaften zwar einer Fußballmannschaft gut zu Gesicht stehen. Als Nährboden für die Wahrheitssuche sind sie denkbar ungeeignet.

Das oft quälende Ringen um Wahrheit und Gerechtigkeit gedeiht am Besten in einem Klima von Zweifeln, Offenheit und persönlicher Verantwortung. Bisher tut die Justiz wenig, dieses Klima zu fördern.

 

2) Sachverständige und Pflichtverteidiger – Das Phänomen der „Beiordnungsprostitution“

In dem Verfahren Mollath wird öffentliche Kritik auch an dem damals beteiligten Verteidiger und an den Gerichtsgutachtern laut. Unabhängig von der Frage, ob bzw. inwieweit diese Kritik im Einzelfall tatsächlich berechtigt ist, offenbaren sich auch bezüglich dieser Verfahrensbeteiligten strukturelle Mängel des deutschen Strafprozesses.

Ab einer bestimmten Schwere der vorgeworfenen Straftat sieht die Strafprozessordnung einen notwendigen Verteidiger (umgangssprachlich Pflichtverteidiger genannt) vor. Dieser wird einem Angeklagten vom Gericht bestellt, der noch keinen Wahlverteidiger hat. Dazu kommt es in den Fällen, in denen sich der Angeklagte keinen renommierten Strafverteidiger leisten kann, oder bei denen er selbst so nachlässig mit dem gegen ihn erhobenen Vorwurf umgeht, dass er sich nicht um eine ordentliche Verteidigung kümmert. Die Angeklagten werden aufgefordert, innerhalb einer kurzen Frist einen Rechtsanwalt zu benennen. Kennen sie keinen geeigneten Strafverteidiger oder lehnt der Anwalt ihrer Wahl die Übernahme des Mandats aus finanziellen Gründen ab, bestellt das Gericht einen Verteidiger, den es sich selbst aussucht.

Es bedarf keiner besonderen Lebenserfahrung oder hellseherischer Fähigkeiten, um sich vorstellen zu können, dass ein Richter in dieser Situation dazu neigen wird, sich einen Verteidiger auszusuchen, der ihm keine „Steine in den Weg legt“.

In diesem Zusammenhang wird – zugegebenermaßen etwas despektierlich – vom Phänomen der „Beiordnungsprostitution“ gesprochen. Mit diesem Begriff wird zum Ausdruck gebracht, dass ab und zu der Eindruck besteht, dass Verteidiger, die durch ein Gericht ausgesucht werden, es „dem Richter recht zu machen“ versuchen. Dies hat häufig mit mangelnder Berufserfahrung zu tun, teilweise aber auch mit fehlendem Berufsethos oder schlicht mit wirtschaftlicher Abhängigkeit.

Wer als junger Anwalt ein paar Mal durch einen Richter bestellt wurde und dann irgendwann prozessuale Möglichkeiten ausschöpft, die aus Sicht des Gerichts unbequem sind, wird schnell die Erfahrung machen, dass er nie wieder einen solchen Job bekommt.

Erfahrene und erfolgreiche Anwälte sind meist dankbar darum, nicht als Pflichtverteidiger bestellt zu werden. Jüngere und wirtschaftlich weniger erfolgreiche Anwälte sind aber häufig auf derartige Pflichtmandate angewiesen und werden alles daran setzen, auch zukünftig vom Richter ausgewählt zu werden.

Es gibt seit Langem Forderungen, die Auswahl der Pflichtverteidiger nicht mehr den Richtern selbst zu überlassen. Denn das ist so, als ob der Betreiber einer gefährlichen Achterbahn sich seinen eigenen TÜV-Ingenieur aussucht und diesen auch noch selbst bezahlt. Schon Martin Luther wusste: „Wes Brot ich ess, des Lied ich sing“.

Durch eine geringfügige Änderung des Gesetzes könnte man die Auswahl der Pflichtverteidiger beispielsweise auf die Anwaltskammern übertragen oder nach einem Zufallsprinzip organisieren. Diese Idee liegt mehr als nahe und wäre mit minimalen Kosten und Aufwand verbunden. Entsprechende Vorschläge verpuffen aber schon seit Jahren und scheitern an der Richter-Lobby.

Dasselbe Phänomen gibt es auch bei Sachverständigen. Psychiatrische Gutachter sind rar. Ärzte und Psychiater, die sich auf entsprechende Gerichtsgutachten spezialisiert haben, finden in der Regel ihre wirtschaftliche Existenzgrundlage darin, von Staatsanwälten oder Richtern hinzugezogen werden. Auch hier passiert es immer wieder, dass ein Sachverständiger, der vor Gericht etwas sagt, das „nicht von ihm erwartet wurde“, sich danach wundern muss, nicht mehr mit Aufträgen versorgt zu werden.

Auch in der Gutachter-Szene führen wirtschaftliche Abhängigkeiten zu unerträglichen persönlichen Verstrickungen. Daher kommt es sehr selten vor, dass ein „Haus- und Hof-Sachverständiger“ vor Gericht den Mut hat, eine unabhängige und unbequeme Position zu vertreten, die Sand ins Getriebe auf dem Weg zu einer schnellen und effektiven Erledigung eines Verfahrens streut.

 

3) Viel Arbeit, wenig Geld

Fast alle Richter und Staatsanwälte klagen über chronische Arbeitsüberlastung. Dies führt zwangsläufig zu Qualitätseinbußen. Insbesondere Prozesse, die schwierig und umstritten sind, werden auf Teufel komm raus zu verhindern bzw. abzukürzen versucht. Dies geschieht u.a. dadurch, dass man „faule Deals“ mit den Angeklagten trifft. So erlebt man als Verteidiger manchmal Einstellungen von Verfahren bzw. Urteile, die man nach dem eigenen Rechtsempfinden (insgeheim) für zu milde hält. Solche Ergebnisse lassen sich nur dadurch erklären, dass der Richter einen aufwendigen Prozess vermeiden wollte. Dies wiederum hat zur Folge, dass die effektivste Verteidigung häufig weniger in qualitativ hochwertiger rechtlicher Argumentation oder akribischer Sachverhaltsarbeit liegt. Erfolg hat derjenige, der die Kunst beherrscht, „dem Richter möglichst viel Arbeit zu machen“.

Umgekehrt erlebt man es auch in den Fällen, bei denen der Verteidigung die „Folter-Werkzeuge“ fehlen (zum Beispiel, wenn ein Angeklagter ein frühes Geständnis abgegeben hat), dass Angeklagte mit unangemessen hohen Strafen „über den Tisch gezogen“ werden.

Im Ergebnis verkommt der Strafprozess so zu einer teuflischen Spirale gegenseitiger Erpressung. Verständlicherweise freuen sich auch Richter und Staatsanwälte nicht über diese Entwicklung.

Aus dem Dilemma käme man am schnellsten und einfachsten heraus, indem man mehr Stellen für Richter und Staatsanwälte schafft. Diese könnten ihrer Arbeit dann gelassener, souveräner und sorgfältiger nachgehen. Verteidiger hätten wieder Grund, sich auf juristische Argumente und präzises Aktenstudium zu verlassen. Unterm Strich würden die Urteile, nähme man sich für sie nur mehr Zeit, durchschnittlich weder härter noch milder werden, sondern einfach nur gerechter.

Es stünde der Politik – insbesondere dem zuständigen Justizministerium – gut zu Gesicht, sich für mehr finanzielle Mittel und eine bessere personelle und sachliche Ausstattung der Justiz einzusetzen. Diese Forderung ist nicht neu, sie wird seit Jahren erhoben. Sie bleibt aber bislang unerhört, obwohl es eine derjenigen rechtspolitischen Forderungen ist, bei der sich Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte ausnahmsweise vollkommen einig sind.

Das Problem der finanziellen Ressourcen stellt sich natürlich auch für Rechtsanwälte, allerdings in einer anderen Weise. Denn während Richter und Staatsanwälte nach festen Beamtensätzen bezahlt werden, hängt der Verdienst der Rechtsanwälte – die in der Regel selbstständig oder zumindest wirtschaftlich abhängig sind – davon ab, wie viele Fälle sie schnell und effektiv bearbeiten.

Auch diejenigen Verteidiger, die das Glück haben, nicht über Mandantenmangel zu klagen, stehen immer wieder vor dem Problem, dass eine sachgerechte Bearbeitung eines Falles nur mit unverhältnismäßigem Aufwand möglich ist.

Das lässt sich wiederum am Fall Mollath verdeutlichen. Herr Mollath hatte unzählige Schreiben verfasst, in denen er seine Anschuldigung gegenüber der Bank bzw. seiner Ex-Frau darlegte. Das alles zu lesen nimmt viele Stunden, wenn nicht sogar Tage in Anspruch. Es ist einem Verteidiger – insbesondere wenn der Mandant kein Geld hat – fast unmöglich, eigene Ermittlungen beispielsweise im Hinblick auf mögliche Schwarzgeld-Verstrickungen von Zeugen durchzuführen. Auch ist die Überprüfung eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens mit sehr viel Zeitaufwand verbunden und effektiv meist nur zu bewerkstelligen, wenn genug Geld vorhanden ist, etwa um eigene Gutachter aufzutreiben, die auf fachlicher Ebene entgegenhalten können.

Hinzu kommt ein Problem im Zusammenhang mit der öffentlichen, insbesondere medialen Wahrnehmung eines Strafprozesses. Bezeichnet ein Verteidiger in der Hauptverhandlung eine Frau als Lügnerin, die behauptet, von ihrem Mann geschlagen worden zu sein, schlägt ihm in der Regel nicht gerade öffentliche Sympathie entgegen. Es bedarf viel Berufsethos und Standhaftigkeit, in einer derartigen Situation durch präzises Aktenstudium und sachliche Argumentation, als Verteidiger eine effektive Kontrollinstanz darzustellen.

Für die Tätigkeit als Pflichtverteidiger erhält man eine Vergütung, die in umstrittenen und schwierigen Verfahren in keinem Verhältnis zum tatsächlichen Arbeitsaufwand steht. Rechnet man die Zeit, die ein engagierter Anwalt in einem Verfahren, in dem es um Unterbringung geht, aufwenden muss, um wirklich gut zu sein, kommt man zu einem Stundensatz, der deutlich unter dem liegt, was derzeit als gesetzlicher Mindestlohn für Putzfrauen oder Hilfsarbeiter in der Landwirtschaft diskutiert wird.

(Der renommierte Strafverteidiger Gerhard Strate aus Hamburg, der die Verteidigung von Gustl Mollath in dem Wiederaufnahme-Verfahren übernommen hat, machte dies übrigens „pro bono“ – d.h. vorläufig ohne gesichertes Honorar. Dies kann sich allerdings nur jemand leisten, der bereits durch andere Mandate wirtschaftlich sehr erfolgreich ist. Im Übrigen könnte auch ein Star-Verteidiger wenig ausrichten, ohne die Joker, die in dem Fall mehr oder weniger zufällig bekannt wurden – wie etwa dem Bericht der Hypo-Vereinsbank oder das fehlerhafte ärztliche Attest, das letztlich den Einstieg in die Wiederaufnahme ermöglicht hatte).

Es wäre daher für eine Verbesserung des Strafprozesses von Nöten, dass die Gebühren für Pflichtverteidiger deutlich angehoben werden –etwa dadurch, dass man ihre Tätigkeit nach Stunden abrechnet, so wie es beispielsweise bei Dolmetschern der Fall ist.

Das Bundesverfassungsgericht hat übrigens einmal entschieden, dass die Übernahme einer Pflichtverteidigung ein anwaltliches „Ehrenamt“ sei. Es sei nicht erforderlich, dass ein Anwalt mit einem solchen Mandat Geld verdient; sogar Verluste seien hinzunehmen. Eine solche Auffassung eines anwaltlichen „Ehrenamtes“ wirkt aus heutiger Sicht wie ein Anachronismus. Es ist zu hoffen, dass sich auch im Denken des Bundesverfassungsgerichts bezüglich der Anwaltsvergütung etwas ändern wird.

 

4) Die Psychiatrie-Falle: Schnell rein, schwer wieder raus

Das Verfahren Mollath brachte bereits eine Gesetzgebungsdiskussion in Gange, die sich voraussichtlich nicht mehr aufhalten lässt. Seitdem ins öffentliche Bewusstsein gedrungen ist, wie leicht es ist, in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen zu werden und wie schwer es ist, dort wieder herauszukommen, wurden inzwischen sogar von verschiedenen Justizministerien Änderungsvorschläge gemacht.

So gibt es bereits jetzt Gesetzesentwürfe, wonach Unterbringungen häufiger durch unabhängige Sachverständige überprüft werden müssen. Dabei ist besonderes Augenmerk auf die Qualität der Gutachten zu legen. Im Fall Mollath entstand der Eindruck, dass ein Gutachter immer nur vom anderen abgeschrieben hatte. So etwas wird es in Zukunft hoffentlich nicht mehr geben.

Eine andere Thematik, mit der sich das Bundesverfassungsgericht kürzlich im Rahmen einer von Gustl Mollath erhobenen Verfassungsbeschwerde zu beschäftigen hatte, betrifft die Frage, ob bzw. unter welchen Voraussetzungen verhältnismäßig geringe Straftaten ein jahrelanges Wegsperren rechtfertigen. Man ist sich einig darüber, dass Herr Mollath angesichts der Vorwürfe, die gegen ihn im Urteil vom 08.08.2006 erhoben wurden, im Falle einer normalen strafrechtlichen Verurteilung (d.h. wenn er nicht für schuldunfähig erkannt worden wäre) das Gefängnis nach einigen Monaten Strafhaft auf Bewährung hätte verlassen können. Eine siebenjährige Inhaftierung wäre angesichts der vorgeworfenen Taten völlig undenkbar.

Mit Beschluss vom 26.08.2013 (2 BvR 371/12) hat das Bundesverfassungsgericht der Verfassungsbeschwerde, die gegen zwei Beschlüsse gerichtet war, die die Fortdauer der Unterbringung anordneten, stattgegeben. Das Bundesverfassungsgericht führte aus, dass die in den entsprechenden Beschlüssen aufgeführten Grünfde nicht genügen, um die Fortdauer der Unterbringung anzuordnen. Gustl Mollath sei hierdurch in seinem Grundrecht auf Freiheit der Person in Verbindung mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verletzt. Wie erwartet, führte das Bundesverfassungsegricht aus, dass sich bei langandauernden Unterbringungen das zunehmende Gewicht des Freiheitsanspruches auch auf die Anforderungen auswirke, die an die Begründung einer Fortdauer – Entscheidung zu stellen seien.

Bereits jetzt ist es so gut wie sicher, dass der Fall Mollath einige Verbesserungen im Bereich der forensischen Psychiatrie bewirken wird. Dies gibt Anlass zur Hoffnung.

 

5) Wer kontrolliert wen?

Es wurde bereits dargelegt, welche absurde Kleinigkeit (auf dem ärztlichen Attest waren die Buchstaben „i.V.“ zu klein geschrieben…) letztlich dazu führte, dass das Oberlandesgericht Nürnberg den Prozess gegen Gustl Mollath wieder aufrollen konnte. Auch dieses Gericht, das nun als der Hüter der Rechtsstaatlichkeit gefeiert wird, hat sich nicht dazu durchringen können, die anderen (viel schwerwiegenderen) neuen Tatsachen und Beweise als so gewichtig zu werten, dass sie eine Wiederaufnahme rechtfertigen.

An dieser Asymmetrie zeigt sich symptomatisch, dass die gesetzlichen Hürden, ein bereits rechtskräftiges Urteil nachträglich zum Kippen zu bringen, viel zu hoch sind.

Dieser Missstand führt nicht nur zu schwerem Unrecht gegenüber denjenigen, die fehlerhaft verurteilt wurden und keine Chance bekommen, rehabilitiert zu werden. Das restriktive Wiederaufnahmerecht führt auch zu einer schlechteren Qualität richterlicher Urteile. Denn ein Richter der sich sicher sein kann, dass sein Urteil „hält“, wird nicht gerade motiviert, sich um größtmögliche Sorgfalt und Genauigkeit zu bemühen. Dies gilt erst recht, wenn er selbst im Fall eines krassen Fehlurteils keine spürbaren persönlichen Konsequenzen zu fürchten hat.

Ein sehr einfacher, billiger und zeitgemäßer Weg, offensichtliche Fehlgriffe eines Gerichts zu korrigieren, wären Videoaufnahmen während laufender Hauptverhandlungen. Die technischen Mittel hierzu wären heutzutage problemlos zu schaffen. Wahrscheinlich wird eine audio-visuelle Dokumentation eines Prozesses in 50 Jahren eine Selbstverständlichkeit sein. Die immer noch – insbesondere von Richtern und Staatsanwälten – gegen Video-Aufnahmen vorgebrachten Argumente werden zukünftigen Juristengenerationen genauso absurd erscheinen, wie uns heute die „Argumente“ vorkommen, die noch vor wenigen Jahrzehnten gegen die Einführung des Frauenwahlrechts vorgebracht wurden.

Letztlich steht hinter der Abscheu bestimmter Kreise, „sich auf die Finger schauen zu lassen“, nichts anderes als die Angst, die Bequemlichkeit und Gewissheit, die mit der Ausübung einer Machtposition verbunden sind, zu verlieren. Ein starker Rechtsstaat braucht effektive Rechtsmittel und Wiederaufnahmemöglichkeiten nicht zu fürchten.

Derzeit werden Rechtsverstöße von Staatsanwälten und Richtern nur von Staatsanwälten und Richtern beurteilt. Jeder kennt das Phänomen, dass eine Krähe einer anderen kein Auge aushackt. Um dem entgegen zu steuern, wäre beispielsweise eine Art Berufsgericht denkbar, in dem neben Vertretern der eigenen Zunft auch Vertreter anderer juristischer Berufsgruppen (beispielsweise Anwälte, Professoren, Volksvertreter usw.) sitzen.

Unternehmen bedienen sich zur Aufklärung und Prävention von Straftaten im eigenen Hause in den letzten Jahren verstärkt eines Vertrauensanwaltes. Ein solcher (teilweise auch „Ombudsmann“ genannt), nimmt Hinweise entgegen und kann dem Hinweisgeber gleichzeitig Anonymität garantieren. Ein unabhängiges und effektives Kontroll- und Hinweis-System wird übrigens sogar von der Rechtsprechung gefordert – für Aktiengesellschaften. Es würde der Justiz gut zu Gesicht stehen, sich selbst diejenige Transparenz und Kontrolle aufzuerlegen, die sie für andere einfordert.

Wenn die Öffentlichkeit die Angestellten der Justiz als normale Menschen mit Fehlern und Schwächen wahrnimmt, die es zu kontrollieren gilt, ist dies eine begrüßenswerte Entwicklung. Das Bild vom unfehlbaren Richter und unbestechlichen Staatsanwalt ist eine Illusion. Je früher man sich von dieser Illusion verabschiedet, desto sachlicher und fairer wird der alltägliche Umgang miteinander werden.

(Am Rande bemerkt: Nimmt man Richter mehr als Menschen war, könnte dies auch dazu führen, dass diejenigen, die unbequeme Entscheidungen treffen, mit mehr Respekt wahrgenommen werden. Der Vorsitzende des Ersten Strafsenats am Oberlandesgericht Nürnberg, der jetzt – nachdem er die sofortige Freilassung von Gustl Mollath verfügte – als „Held der Rechtsstaatlichkeit“ gefeiert wird, hatte vor ein paar Jahren eine ähnliche Entscheidung getroffen, die aus Sicht fast aller Juristen nicht minder rechtsstaatlich und vorbildlich war. Damals war die Nürnberger Boulevard-Presse jedoch anderer Meinung. Ein Photo des Richters – der verheiratet ist und Kinder hat – wurde auf der Titelseite einer Zeitung abgedruckt und in einer diffamierenden Weise verzerrt. Die Journalisten wollten die Person des Richters an den Pranger stellen, der aus ihrer Sicht gemeingefährliche Verbrecher frei herumlaufen lässt.)

Dr. Tobias  Rudolph, Fachanwalt für Strafrecht

Nürnberg, August 2013

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Rechtsanwalt Dr. Tobias Rudolph vertrat einen Kollegen in einem standesrechtlichen Verfahren vor der Rechtsanwaltskammer München.

Hintergrund dieses Verfahrens ist eine Auseinandersetzung zwischen dem Rechtsanwalt K, der 2010 als Vermögensbetreuer einer vermögenden älteren Dame eingesetzt wurde und dem von Dr. Rudolph vertretenen Kollegen N, den diese Dame im Juli 2011 zum Schutz gegen massive Eingriffe des Vermögensbetreuers beauftragt hat. Der Rechtsanwalt N hat das Fehlverhalten des Rechtsanwalt K deutlich kritisiert. Der Rechtsanwalt K hat auf die Schreiben des Rechtsanwalts N nicht geantwortet. Er hat auch sein Verhalten nicht geändert. Vielmehr wurden die Schreiben des Rechtsanwalts N der Rechtsanwaltskammer vorgelegt, damit diese prüft, ob der Rechtsanwalt N das Sachlichkeitsgebot der anwaltlichen Berufsordnung (BRAO) verletzt hat. Dieses Sachlichkeitsgebot ist in § 43 a Abs. 3 BRAO geregelt. Die allgemeine Pflicht des Rechtsanwalts zur gewissenhaften Berufsausübung wird dahingehend konkretisiert wird, dass ein Anwalt sich bei seiner Berufsausübung nicht unsachlich verhalten darf. Der Rechtsanwalt N hat dem Betreuer-Anwalt Kooperation im Interesse der Betreuten angeboten und „Kampf, von meiner Seite ohne jede kollegiale Rücksichtnahme“ angekündigt, wenn die Kooperation ausgeschlagen wird. Weiter hat der Rechtsanwalt N von der Unfähigkeit des Rechtsanwalt K geschrieben, das Amt des Betreuers korrekt auszuüben.

Unter anderem standen folgende Äußerungen des Rechtsanwalts im Streit:

„Also jetzt istKampf, von meiner Seite ohne jede kollegiale Rücksichtnahme“. Dem Betreuer wurde weiterhin „Unfähigkeit“ attestiert, das Amt des Betreuer korrekt auszuüben . Der gegnerische Anwalt „handle ohne Wissen und Willen“ der Betreuten „außerhalb seiner Kompetenzen.“

Rechtsanwalt Dr. Tobias Rudolph stellte gegenüber der Anwaltskammer klar, dass der Streit um die Äußerungen des Rechtsanwalts N nicht geklärt werden kann, ohne die tatsächlichen Hintergründe zu kennen. Das Kammerverfahren gegen N war eingeleitet worden, ohne das Betreuungsgericht, die Betreuungsstellen, die Seniorenresidenz oder die Betreute selbst zu hören.

In seinem Schriftsatz an die zuständige Rechtsanwaltskammer setzt sich Dr. Tobias Rudolph ausführlich mit der Berufsfreiheit (Art. 12 Grundgesetz) und der Meinungsfreiheit (Art. 5 Grundgesetz) im Rahmen der anwaltlichen Berufsausübung auseinander.

Rechtsanwalt Dr Rudolph weist in seinem Schriftsatz auch darauf hin, dass die Äußerungen des Kollegen N vor dem Hintergrund der Gefährdungslage der Betreuten zu sehen sind. Anders als im Strafrecht gibt es im Betreuungsrecht kaum Rechtsschutzmöglichkeiten. Der Rechtsanwalt N kämpft für die Rechte und die Würde der Betreuten. Wenn ein Anwalt seinem beruflichen Auftrag, nämlich dem Kampf ums Recht, nachkommt, so kann darin kein standeswidriges oder unsachgemäßes Verhalten gesehen werden.

Den Schriftsatz von Dr. Tobias Rudolph an die Rechtsanwaltskammer München können Sie hier in einer anonymisierten Fassung nachlesen.

Inzwischen hat das Betreuungsgericht auf Antrag des Rechtsanwalts N den Rechtsanwalt K als Betreuer entlassen. Das Kammer-Verfahren gegen den Rechtsanwalt wurde eingestellt.

Ähnliche Themen:

1) Strafverfahren gegen Rechtsanwalt wegen des Verdachts der Steuerhinterziehung

2) Strafverfahren gegen Rechtsanwalt wegen Beleidigung einer Staatsanwältin

3) Strafverfahren gegen Rechtsanwalt wegen des Verdachts der Strafvereitelung

Ein Mandant des Nürnberger Verteidigers Dr. Tobias Rudolph war Rechtsanwalt N. Dieser Rechtsanwalt vertrat eine Mandantin in einem Zivilverfahren. Es gab erhebliche Gründe, die dafür sprachen, dass diese Mandantin im Rahmen einer Erbschaftssache Opfer eines Prozessbetruges und eines Meineides geworden war. Ein Zeuge hatte vor Gericht eine objektiv falsche Aussage gemacht, durch welche die Durchsetzung der Ansprüche aus der Erbschaft erschwert wurde.

Der Rechtsanwalt N erstattete daraufhin Strafanzeige gegen den Zeugen. Es kam zu einem Straf­verfahren, in welchem eine Staatsanwältin S die Anklage vertrat. Die Staatsanwältin ver­stieß in der Hauptverhandlung gleich mehrfach gegen ihre Pflichten als An­klage­ver­treterin:

  • Sie wirkte nicht darauf hin, dass die Verdachtsmomente gegen den Zeugen, der eine falsche Aussage gemacht hatte, in öffentlicher Hauptverhandlung verhandelt wurden.
  • Sie legte vorhandene Beweise den Schöffen nicht vor. Dadurch war es den Laien­richtern am Schöffengericht nicht möglich, sich ein zutreffendes Bild von dem ta­tsächlichen Anklagevorwurf zu machen.
  • Sie führte während des laufendes Verfahrens geheime Absprachen mit dem Gericht, obwohl dies einem Sitzungsvertreter der Staatsanwalt ausdrücklich untersagt ist (vgl. Nr. 123 RiStBV)
  • Sie verzichtete faktisch auf ein Plädoyer
  • Sie widersprach nicht, als offenkundig wurde, dass das Gericht einen von zwei Tat­vorwürfen (Betrug und Meineid) ohne Begründung und ohne gesetzliche Grund­lage unter den Tisch fallen ließ

Rechtsanwalt N, der dieser Szene als Zuschauer beigewohnt hatte, wandte sich danach mit einem Brief an die Staatsanwältin und versuchte, sie dazu zu bewegen, gegen den Freispruch das Zeugen Berufung einzulegen. Nach seiner Auffassung handelte es sich dabei um ein krasses Fehlurteil. Nach seinen Beobachtungen drängte sich der Verdacht auf, dass hier nicht Recht gesprochen werden sollte, sondern dass das Gericht und die Staatsanwaltschaft den Zeugen aus nicht rechtsstaatlichen Gründen schonen wollten.

Seine Verwunderung über den Vorgang brachte er mit folgender Formulierung zum Aus­druck:

„Mit Ihnen als Staatsanwältin hat vermutlich keine Diktatur ein Problem.“

Rechtsanwalt N hat sich bei der Staatsanwältin für diese misslungene Formulierung entschuldigt. Er hatte es versäumt, die Formulierung – Ausdruck seiner Empörung unmittelbar nach der von ihm beobachteten Hauptverhandlung – in einer späteren Schrift­satz­fassung zu löschen. Spontan hatte er den Eindruck gewonnen, die Staatsanwältin habe sich in ihrem Verhalten nicht vom Recht leiten lassen.

Gleichwohl wurde gegen Rechtsanwalt N ein Strafverfahren wegen Beleidigung (§ 185 StGB) eingeleitet.

Rechtsanwalt Dr. Tobias Rudolph vertrat Rechtsanwalt N in diesem Strafverfahren. Ziel der Verteidigung war es, nachzuweisen, dass die Äußerungen von der Meinungsfreiheit (Art. 5 GG, § 193 StGB) gedeckt sind.

Das Verfahren betraf eine rechtliche Grundsatzfrage: Wie weit reicht die Meinungsfreiheit in einer Auseinandersetzung vor Gericht? Wie sehr fallen die Pflichtverletzungen der Staatsanwältin bei der Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrechten ins Gewicht?

Nach umfangreichen Beweisanträgen, die die Hintergründe des Geschehens beleuchten sollten, wurde der Strafantrag durch die Staatsanwältin kurz vor Beginn des Prozesses zurück genommen.

Einige der Schriftsätze, die durch RA Dr. Rudolph als Verteidiger angefertigt worden waren, können Sie hier bzw. hier in anonymisierter Form nachlesen.

Keine Strafbarkeit von Kassenärzten wegen Korruption

Macht sich ein niedergelassener Kassenarzt strafbar, der  von einem Pharmahersteller Geld oder andere Vorteile  als Gegenleistung für die Verordnung von Medikamenten erhält? Macht sich korrespondierend hierzu der Mitarbeiter des jeweiligen Pharmaunternehmens strafbar, der diese Vorteile gewährt?

Über die kontrovers diskutierte Grundsatzfrage, ob die Annahme von Geschenken durch Kassenärzte und Mitarbeiter von Pharmaunternehmen strafbar ist, hatte der Große Senat für Strafsachen zu entscheiden.

In seinem am 22. Juni 2012 veröffentlichten Beschluss vom 29. März 2012 (Az. GSSt 2/11) verneinte der Bundesgerichtshof diese Frage.

In dem zugrunde liegenden Fall ging es um eine Pharmareferentin, die Kassenärzten Schecks über insgesamt 18.000 € als Prämie für die Verordnung von Arzneimitteln ihres Unternehmens ausstellte. Der BGH entschied, dass weder die Pharmareferentin, noch die betreffenden Ärzte durch dieses Vorgehen einen Straftatbestand verwirklicht haben.

Der Große Senat kommt zu dem Ergebnis, dass niedergelassene Vertragsärzte keine Amtsträger sind. Sie sind auch keine Beauftragte der Krankenkassen,  wenn sie ihren Patienten Medikamente verschreiben. Damit scheidet eine Strafbarkeit der Ärzte sowohl  wegen Bestechlichkeit  (§ 332 StGB) als auch wegen Bestechlichkeit im geschäftlichen Verkehr (§ 299 I StGB) aus. Entsprechend sind auf der aktiven Seite auch Mitarbeiter von Pharmaunternehmen, die Ärzten Vorteile zuwenden, nicht wegen Bestechung (§ 334 StGB) oder Bestechung im geschäftlichen Verkehr (§ 299 Abs. 2 StGB) strafbar.

Kassenärzte keine Amtsträger

Zwar zählen die gesetzlichen Krankenkassen zu den in dieser Vorschrift genannten Einrichtungen. Sie  sind sonstige Stellen der öffentlichen Verwaltung im Sinne des § 11 Abs. 1 Nr. 2 c) StGB.

Der BGH stellt in seinem Beschluss jedoch fest, dass der freiberuflich tätige Kassenarzt weder Angestellter noch Funktionsträger einer öffentlichen Behörde ist. Ein Arzt ist damit nicht dazu bestellt, Aufgaben der öffentlichen Verwaltung  wahrzunehmen.

Für die Beurteilung ob eine Wahrnehmung von Aufgaben der öffentlichen Verwaltung erfolgt, ist entscheidend, ob der Tätigkeit der betreffenden Person im Verhältnis zum Bürger der Charakter eines hoheitlichen Eingriffs zukommt. Dies ist  nach Ansicht der Richter hier nicht der Fall.

Der Schwerpunkt wird also nicht auf das Verhältnis Allgemeinheit-Arzt gelegt. Vielmehr betonen die Richter die Wichtigkeit des individuellen Verhältnisses zwischen Vertragsarzt und Patient. Hierbei steht das  persönliche Vertrauen der Beteiligten im Vordergrund.

Die Tatsache, dass Ärzte auch öffentliche Aufgaben zu erfüllen haben, tritt dahinter zurück.

Der Arzt wird durch seine Patienten ausgewählt. Im Arzt-Patienten-Verhältnis steht die persönliche Beziehung im Vordergrund. Die öffentliche Daseinsvorsorge (Bsp. Müllabfuhr, Friedhöfe, Gesundheitsämter usw.) hat demgegenüber einen ganz anderen Charakter. Versicherte empfinden ihren Arzt auch im Zweifel als Vertrauensperson – und nicht als Hoheitsträger.

Kein Beauftragter der gesetzlichen Krankenkassen i.S.v. § 299 StGB

Der BGH stellte in seinem Beschluss auch klar, dass der Kassenarzt kein Beauftragter der gesetzlichen Krankenkassen i.S.v. § 299 StGB ist.

Gemäß § 72 Abs. 1 Satz 1 SGB V wirken die Kassenärzte mit den gesetzlichen Krankenkassen zur Sicherstellung der kassenärztlichen Versorgung zusammen. Der Bundesgerichtshof sieht hierin eine grundsätzliche gesetzgeberische Gleichordnung. Es besteht also insbesondere kein Über-Unter-Ordnungsverhältnis. Der Begriff des „Beauftragten“ setzt demgegenüber gerade ein solches Stufenverhältnis voraus.

Es kommt hinzu, dass die Krankenkasse den vom Versicherten frei gewählten Arzt akzeptieren muss. Es gibt kein Weisungsrecht der Kasse gegenüber den Patienten bei der Arztwahl.

Bekämpfung der Korruption im Gesundheitswegen ist Hausaufgabe des Parlaments

Der BGH hatte in vorliegender Angelegenheit lediglich darüber zu entscheiden, ob durch das Annehmen von Vorteilen durch den Arzt bzw. durch das Anbieten solcher  Vorteile durch Pharmaunternehmen ein Straftatbestand verwirklicht wird.

Es wird von den Richtern in Karlsruhe durchaus angedeutet, dass Korruption im Gesundheitswesen möglicherweise gleichwohl strafwürdig ist. Nur ist es eben Aufgabe des Gesetzgebers – und nicht der Gerichte – entsprechende Straftatbestände zu schaffen. Zumindest nach dem geltenden Recht sahen sich die Richter an einer Verurteilung gehindert.

Kein Freibrief für Ärzte

Kassenärzte und Pharmavertreter müssen nach dem Beschluss des BGH  zwar aktuell nicht mit strafrechtlicher Verfolgung rechnen. Anders als zuweilen in der Presse dargestellt, dürfen selbstständige Ärzte jetzt aber nicht auf einmal unbedacht Geschenke annehmen und Provisionen kassieren.

Sie unterliegen weiter dem ärztlichen Berufsrecht. Dieses enthält Regeln für die Zusammenarbeit mit Dritten, wie beispielsweise Pharmaunternehmen. So sieht die Berufsordnung für Ärzte vor, dass es Ärzten nicht gestattet ist, Geschenke oder andere Vorteile für sich zu fordern oder anzunehmen, wenn hierdurch der Eindruck erweckt wird, die Unabhängigkeit der ärztlichen Entscheidung werde beeinflusst. Die Annahme von geldwerten Vorteilen in angemessener Höhe ist nur dann erlaubt, wenn diese ausschließlich für berufsbedingte Fortbildungsveranstaltungen verwendet werden.

Verstößt ein Arzt gegen die Berufsordnung, drohen berufsrechtliche Konsequenzen.

Am Dienstag, den 19. Juni 2012, kam es vor dem Landgericht Münster zu einem Eklat. Vor laufenden Kameras und unter den Augen der Öffentlichkeit wurde ein Rechtsanwalt in Handschellen abgeführt. Der Anwalt war als Verteidiger in einer umfangreichen Steuerstrafsache tätig. Dieses Verfahren hatte bereits einige Hauptverhandlungstage in Anspruch genommen. Kurz nach Beginn des laufenden Prozesstages erklärte Staatsanwalt X einem der Verteidiger die „vorläufige Festnahme“.

Hintergrund für die Festnahme war folgender: Der Rechtsanwalt wird durch die Staatsanwaltschaft Münster verdächtigt, einem der Zeugen aus dem Steuerstrafverfahren den Betrag von 50.000 € dafür geboten zu haben, dass dieser vor Gericht eine falsche Aussage machen soll.

In jedem Berufsstand gibt es schwarze Schafe. Würde sich der Verdacht gegen den Rechtsanwalt bestätigen, so wäre ein solches Verhalten nicht nur ein schwerer Verstoß gegen Berufspflichten. Der Rechtsanwalt hätte sich auch strafbar gemacht.

Bis dahin gilt aber auch für den verhafteten Rechtsanwalt die Unschuldsvermutung. Ob sich der Verdacht bestätigen wird ist noch nicht abzusehen.

Es besteht Anlass, sich über die Rechte und Pflichten eines Verteidigers sowie über die Art und Weise des Vorgehens der Staatsanwälte Gedanken zu machen.

Rechte und Pflichten des Strafverteidigers

Strafverteidiger sind bei der Ausübung ihres Berufes an die Gesetze gebunden. Ihre Aufgabe ist es, die Hypothesen einer Anklage gegen einen Beschuldigten konsequent infrage zu stellen. Wenn sie dabei bemerken, dass den Ermittlern belastende Beweismittel nicht bekannt sind, so gehört es zu den prozessualen Rechten, belastende Beweismittel zu verschweigen. Es ist also nicht die Aufgabe eines Verteidigers, an der vollständigen und lückenlosen Aufklärung eines Sachverhalts mitzuwirken. Es ist aber die Aufgabe eines Verteidigers, im Rahmen des gesetzlich Zulässigen sämtliche Spielräume auszuschöpfen, die geeignet sind, Zweifel an der Anklage zu wecken. Nach einem berühmten Wort des Strafverteidigers Hans Dahs lässt sich Stellung eines Anwalts im Strafprozess mit folgender Formel umschreiben: „Alles, was der Verteidiger sagt, muss wahr sein, aber er darf nicht alles sagen, was wahr ist.”

Vor diesem Hintergrund sind die Rechte eines Verteidigers, aktiv auf das Beweisergebnis einer Hauptverhandlung einzuwirken, beschränkt. Gleichwohl ist heutzutage weitgehend anerkannt, dass es keine unzulässige Strafvereitelung durch einen Rechtsanwalt darstellt, wenn dieser beispielsweise Kontakt mit einem Zeugen aufnimmt, um sich ein eigenes Bild zu machen. Dies hat der BGH bereits in seiner Entscheidung aus dem Jahr 1957 (BGHSt 10,393) klargestellt.  Darin heißt es „Wer einen anderen veranlasst, von einem ihm zustehenden Recht Gebrauch zu machen, handelt nur rechtswidrig, wenn er dabei unerlaubte Mittel anwendet. Der Zeuge soll frei darüber entscheiden, ob er von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen will oder nicht. Das bedeutet aber nicht, dass andere Personen ihn in dieser Beziehung nicht beeinflussen dürfen“. Der BGH sieht nur dann eine unzulässige Beeinträchtigung des Zeugen, wenn dieser durch Täuschung, Drohung oder Bestechung beeinflusst wird.

In manchen Fällen ist die Kontaktaufnahme eines Anwalts mit Zeugen sogar geboten, wenn dies zur pflichtgemäßen Sachaufklärung, Beratung oder Vertretung notwendig ist.

Es ist als zulässiges Verteidigerverhalten anerkannt, dass einem Zeugen, der ein Zeugnisverweigerungsrecht hat (beispielsweise die Ehefrau eines Angeklagten) den Rat gegeben wird, von diesem Recht zu schweigen, Gebrauch zu machen.

Nicht jedes Anbieten von Geld ist dabei eine unzulässige „Bestechung“. Es ist durchaus zulässig, wenn dem Opfer – das ja auch Zeuge vor Gericht ist – Geld angeboten wird, beispielsweise als Schadensersatz oder Schmerzensgeld. Ein solches Verteidigungsverhalten ist vom Gesetz sogar gewollt und wird dem Angeklagten in vielen Fällen auch nutzen. Denn gemäß § 46a StGB stellt es einen erheblichen Strafmilderungsgrund dar, wenn sich beispielsweise der Täter und das Opfer einer Körperverletzung bereits über zivilrechtliche Ausgleichsansprüche geeinigt haben.

Es gibt also eine Grenze zwischen einer zulässigen passiven Verteidigung und einer unzulässigen aktiven Einwirkung auf das Beweisergebnis. Ein Verteidiger ist niemals berechtigt, aktiv auf ein falsches Beweisergebnis hinzuwirken. Es ist ihm insbesondere verboten, Zeugen zu Falschaussagen anzustiften.

Sollte ein Verteidiger mit einem Zeugen Kontakt aufnehmen?

Erfahrene Strafverteidiger sind bei der Kontaktaufnahme mit potentiellen Zeugen äußerst zurückhaltend und vorsichtig. Denn sehr viele Anwälte haben schon die Erfahrung gemacht, dass bei derartigen Gesprächen häufig Missverständnisse auftreten. Ein renommierter Kollege geriet beispielsweise einmal in den (unbegründeten) Verdacht der Amtsanmaßung. Eine Zeugin, mit der sich der Anwalt unterhalten hat, hatte behauptet, dieser habe sich ihr gegenüber als Staatsanwalt ausgegeben. Später stellte sich heraus, dass die Zeugin nicht in der Lage war (oder nicht in in der Lage sein wollte), die grundsätzlich unterschiedlichen Funktionen eines Rechtsanwalts und eines Staatsanwalts auseinanderzuhalten.

Manchmal sind es auch andere Motive, die Zeugen verleiten, über angebliches Verteidigerverhalten gegenüber der Polizei unzutreffende Angaben zu machen. Dies können eigene Interessen am Ausgang des Verfahrens sein oder einfach nur ein besonderes Geltungsbedürfnis des Zeugen.

Das Risiko für einen Verteidiger, selbst in den unbegründeten Verdacht einer Straftat zu geraten, ist groß.

Missverständnisse sind häufig. Sie haben ihre Wurzeln in Fehlvorstellungen der Bevölkerung über die Rechte und Pflichten eines Strafverteidigers. Das gängige Klischee ist häufig von amerikanischen Filmen geprägt. So kann eine zulässige Verteidigungsmaßnahme schnell in ein falsches Licht gerückt werden. Wendet sich ein Verteidiger beispielsweise an einen Zeugen, um diesen – zulässigerweise – ein Schmerzensgeld anzubieten, kann dies schnell als unzulässiger Versuch der Beeinflussung fehlinterpretiert werden.

In Handbüchern zur Strafverteidigung wird für die Kontaktaufnahme mit Zeugen daher in der Regel empfohlen, dies stets in einem formellen schriftlichen Rahmen zu tun. Man sollte einem Zeugen daher, bevor man ihn anruft oder aufsucht, im Zweifel einen Brief schreiben, um das Anliegen unmissverständlich zu schildern. In diesem Schreiben sollte klargestellt werden, dass kein Zeuge verpflichtet ist, mit dem Anwalt zu sprechen. Es sollte außerdem darauf hingewiesen werden, dass alle Gespräche zwischen einem Anwalt und einem Zeugen auch gerichtskundig zu machen sind. Im Zweifel hat ein Zeuge im Rahmen der Aussage vor Gericht von sich aus den Inhalt vorangegangener Gespräche schildern, sofern sie für das Verfahren relevant sind.

Schon daher empfiehlt es sich aus Anwaltssicht, unbeteiligte Dritte bei einem Gespräch mit einem Zeugen hinzuzuziehen. Der Inhalt eines Gesprächs sollte so exakt wie möglich protokolliert werden. Idealerweise sollte sich ein Zeuge, wenn er mit einem der Verteidiger in einem Strafverfahren Kontakt hat, seinerseits durch einen eigenen Anwalt begleiten lassen.

Strafverteidiger und Staatsanwälte als Organe der Rechtspflege

In anderen Rechtsordnungen wird dieses Thema nicht überall gleich behandelt. So gilt es beispielsweise in Frankreich als standeswidrig, wenn ein Anwalt eigene Ermittlungen vornimmt. In den USA ist einem Anwalt die Kontaktaufnahme mit Zeugen in bestimmten prozessualen Situationen untersagt.

Die Tatsache, dass das deutsche Strafprozessrecht weitergehende Ermittlungen des Verteidigers zulässt, hängt mit einigen Besonderheiten der deutschen Rechtsordnung zusammen. Der Rechtsanwalt ist „unabhängiges Organ der Rechtspflege“ (§ 1 BRAO). Anders als im amerikanischen Strafprozess, bei dem sich Ankläger und Verteidiger als Gegner gegenüberstehen, ist die deutsche Prozessordnung von dem Gedanken geprägt, dass sowohl das Gericht als auch die Staatsanwaltschaft verpflichtet sind, den wahren Sachverhalt umfassend und objektiv zu ermitteln. Die Anklagebehörde darf daher nicht einseitig als Interessenvertreter auftreten. Vielmehr ist sie verpflichtet, auch alle entlastenden Beweismittel von sich aus dem Gericht vorzulegen und bei ihren Handlungen zu berücksichtigen. Die deutsche Staatsanwaltschaft bezeichnet sich selbst daher gerne auch als die „objektivste Behörde der Welt“.

Vor diesem Hintergrund ist die erste Reaktion der Anwaltschaft auf den Vorwurf, der gegenüber dem Kollegen aus Münster erhoben wird, ambivalent:

Einerseits sieht man den großen Schaden für das Ansehen des Berufsstandes, sollte sich der gegen den Kollegen erhobene Verdacht als wahr herausstellen.

Andererseits dürfte wohl jeder erfahrene Strafverteidiger in seinem Leben schon einmal die Erfahrung gemacht haben, wie schnell man in diesem Beruf in den – unbegründeten! – Verdacht geraten kann, die Grenzen des zulässigen Verteidigerhandelns überschritten zu haben. Dies liegt daran, dass es gerade die Aufgabe der Strafverteidigung ist, sich in Grenzgebieten zu bewegen. Oft befinden sich die Beteiligten in einer emotionalen Ausnahmesituation. Fast immer prallen unterschiedliche Welten und Weltanschauungen zusammen.

Die Grenzen zwischen zulässigen und unzulässigen Verteidigerverhalten sind dementsprechend formalistisch. Jede Verteidigung, die diesen Namen verdient, bewegt sich in einem Minenfeld.

Inzwischen gibt es sogar spezielle Rechtsschutzversicherungen für Strafverteidiger, die in den Verdacht geraten, die Grenzen des Zulässigen überschritten zu haben.

Die Methoden der Staatsanwaltschaft Münster

Unabhängig davon, ob sich der Vorwurf gegenüber dem verhafteten Kollegen bestätigt oder nicht – in einem Punkt sind sich die Anwälte in den ersten Reaktionen einig:

Das Verhalten der Staatsanwaltschaft Münster ist durch nichts zu rechtfertigen. Es ist ihres Amtes unwürdig und in höchstem Maße diffamierend.

Der Vorgang wird das Verhältnis zwischen Verteidigern und Justiz beschädigen.

Es ist zum einen schon äußerst zweifelhaft, wie bei dem gegen den Kollegen erhobenen Tatvorwurf ein Haftbefehl begründet werden sollte. Denn ein solcher würde einen Haftgrund voraus setzen, d.h. hier entweder Flucht- oder Verdunkelungsgefahr. Beides erscheint äußerst fragwürdig. Wie soll beispielsweise eine Verdunkelungshandlung bzgl. des Vorwurfes der „Bestechung“ aussehen? Immerhin hat der belastende Zeuge seine Aussage bereits gemacht.

Zudem ist es äußerst fraglich, ob die Voraussetzungen für eine „vorläufige Festnahme nach § 127 StPO“ (Original-Ton Staatsanwalt) vorliegen.

Unabhängig davon lässt sich kaum ein redlicher Grund vorstellen, weshalb eine Festnahme vor laufenden Fernsehkameras und in öffentlicher Verhandlung erforderlich gewesen sein soll. Presseberichten zufolge sollen Medienvertreter im Vorfeld informiert gewesen sein. Der Fernsehsender WDR soll den Tipp bekommen haben, den Prozess zu besuchen, weil sich „dort etwas ereignen würde“.

Ein Vorgang, wie er sich vor dem Landgericht Münster abgespielt hat, dürfte in der deutschen Rechtsgeschichte einmalig sein – und dies hoffentlich auch bleiben.

Die öffentliche Festnahme in Handschellen kann einzig das Ziel haben, dem Beschuldigten seinen Stolz und seine Würde zu nehmen. Eine solche öffentliche Zurschaustellung eines Verdächtigen ist weder mit dem europäischen Verständnis der Würde eines Menschen noch den Beschuldigtenrechten vereinbar. Sie verträgt sich auch nicht mit der rechtlichen Stellung der Staatsanwaltschaft, die – wie auch Rechtsanwälte – „Organe der Rechtspflege“ sind.

Den zuständigen Oberstaatsanwalt dürfte angesichts der Festnahme vor laufender Fernsehkamera kaum interessiert haben, dass sein Verhalten gemäß den internen Richtlinien für Staatsanwälte ausdrücklich verboten ist. In den Richtlinien für das Straf- und Bußgeldverfahren (RiStBV) heißt es:

Nr. 4a: Keine unnötige Bloßstellung des Beschuldigten

„Der Staatsanwalt vermeidet alles, was zu einer nicht durch den Zweck des Ermittlungsverfahrens bedingten Bloßstellung des Beschuldigten führen kann.“

Nr. 23: Zusammenarbeit mit Presse und Rundfunk

(1) Bei der Unterrichtung der Öffentlichkeit ist mit Presse, Hörfunk und Fernsehen unter Berücksichtigung ihrer besonderen Aufgaben und ihrer Bedeutung für die öffentliche Meinungsbildung zusammenzuarbeiten. Diese Unterrichtung darf weder den Untersuchungszweck gefährden noch dem Ergebnis der Hauptverhandlung vorgreifen; der Anspruch des Beschuldigten auf ein faires Verfahren darf nicht beeinträchtigt werden. Auch ist im Einzelfall zu prüfen, ob das Interesse der Öffentlichkeit an einer vollständigen Berichterstattung gegenüber den Persönlichkeitsrechten des Beschuldigten oder anderer Beteiligter, insbesondere auch des Verletzten, überwiegt. Eine unnötige Bloßstellung dieser Person ist zu vermeiden. Dem allgemeinen Informationsinteresse der Öffentlichkeit wird in der Regel ohne Namensnennung entsprochen werden können (…).
(2) Über die Anklageerhebung und Einzelheiten der Anklage darf die Öffentlichkeit grundsätzlich erst unterrichtet werden, nachdem die Anklageschrift dem Beschuldigten zugestellt oder sonst bekanntgemacht worden ist.

Die Verhaftung eines Verteidigers in Anwesenheit zahlreicher Medienvertreter ist eine solche Bloßstellung. Es ist zu erwarten, dass der Vorgang nicht nur dienstrechtliche Konsequenzen für die verantwortlichen Staatsanwälte hat. Sollte sich herausstellen, das der festgenommene Anwalt unschuldig ist, so dürfte dieser auch erhebliche Schadensersatzansprüche gegenüber dem Staat haben – auf Kosten der Steuerzahler.

Fazit

Das durch die Staatsanwaltschaft Münster gesetzte Signal ist fatal: Durch die öffentliche Diffamierung eines Rechtsanwalts wird jegliche professionelle Distanz aufgegeben.

Bestrebungen, auch hart umstrittene Strafprozesse sachlich und mit menschlichen Umgangsformen zu gestalten, werden durch derartige Aktionen mit den Füßen getreten.

Strafverteidiger haben die Aufgabe, zu verhindern, dass staatliche Organe die ihnen verliehenen Ämter missbrauchen. Auch Staatsanwälte sind an die Gesetze gebunden. Wenn in fragwürdiger Weise gegen Verteiger selbst Strafverfahren geführt werden, gerät das Machtgefüge unserer Gesellschaft ins Wanken.

Der Polizei war ein Verkäufer aufgefallen, der auf der Internet-Plattform ebay in sechs Wochen ca. 180 Mobiltelefone, davon 46 Stück Neuware in Original­ver­packung, veräußert hatte. Die Preise, zu denen die Mobiltelefone verkauft wurden, erschienen verdächtig niedrig. Da der Verkäufer kein Gewerbe an­ge­meldet hatte, entstand der Verdacht, dass es sich um den Verkauf von Hehler­ware handeln könnte.
Das Amtsgericht Nürnberg erließ daraufhin einen Durchsuchungsbeschluss. Mehrere Beamte durchsuchten die Wohnung des Beschuldigten nach Mobil­telefonen, Rechnungen, Computern und sonstigen Schriftstücken oder Daten­trägern, die Aufschluss über Herkunft und Verbleib der verkauften Mobiltelefone geben könnten. Die Computer des Beschuldigten wurden durch die Polizeibeamten mit­ge­nommen.

Später stellte sich heraus, dass die Geräte legal erworben worden waren. Die meisten davon waren defekte Geräte, die der Beschuldigte selbst repariert hatte. Dies erklärte auch die niedrigen Preise – auf die ein Verkäufer bei normalen ebay-Auktionen sowieso keinen Einfluss hat. Das Strafverfahren wurde ein­ge­stellt.

Der ebay-Verkäufter legte Beschwerde gegen die Durchsuchung ein. Er empfand die Durchsuchung seiner Wohnung und die Durchsicht der Computerfestplatte als einen erheblichen Eingriff in seine Intimsphäre.
Während das Landgericht Nürnberg-Fürth die Argumente des Betroffenen nicht gelten lassen wollte, sah das Bundesverfassungsgericht die von Rechtsanwalt Dr. Tobias Rudolph eingelegte Verfassungsbeschwerde als begründet an. Das Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung wurde durch die Durchsuchung verletzt. Dieses Grundrecht gewährt nach dem Bundesverfassungsgericht „einen räumlich ge­schützten Bereich der Privatsphäre, in dem jedermann das Recht hat, in Ruhe ge­lassen zu werden“. Eingriffe in die Privatsphäre sind durch staatliche Organe nur bei ganz konkretem Verdacht einer Straftat zulässig. Der Umstand, dass ein ebay-Verkäufer in kurzer Zeit relativ viele Mobiltelefone verkauft, begründet noch nicht einen solchen Verdacht.
Die Annahme des Verdachts der Hehlerei beruhte in dem konkreten Fall auf bloßen Vermutungen. Der Durchsuchungsbeschluss, den das Amtgericht Nürnberg erlassen hatte, verletzte daher den Betroffenen in seinen Grundrechten und war rechtswidrig.

Die von Strafverteidiger Dr. Rudolph eingelegte Verfassungsbeschwerde können Sie in anonymisierter Form hier herunter laden.

Die Entscheidung selbst finden Sie auf den Internetseiten des Bundesverfassungsgerichts:

BVerfG vom 10.09.2010 – 2 BvR 2561/08

Rechtsanwalt Dr. Tobias Rudolph hat einen der Angeklagten im so genannten Nürnberger Zahngold-Fall vertreten. Der ungewöhnliche Sachverhalt hat zu einigen moralischen und juristischen Kontroversen geführt und sogar internationales öffentliches Interesse gefunden.

Die Angeklagten, die als Arbeiter in einem Nürnberger Krematorium mit der Feuerbestattung von Leichnamen betraut waren, hatten über Jahre hinweg das bei den Einäscherungen übrig bleibende Zahngold heimlich an sich genommen, um dieses für sich zu behalten und gewinnbringend weiterzuverkaufen. Für 130 000 Euro sollen die ehemaligen Bediensteten der Stadt Nürnberg das Gold an einen örtlichen Juwelier weiterverkauft haben. Dieses Vorgehen war der Stadt aufgrund technischer Fehleinschätzungen über Jahre unbekannt geblieben.

Neben schwierigen rechtlichen Problemen (vgl. dazu Jahn/Ebner, JuS 2008, S. 1086 ff.; Safferling/Menz, Jura 2008, S. 283 ff.; Streng, GA 2009, S. 529; Kudlich, JA 2008, S. 391 f.) wurde hier die (nicht nur) politisch zu entscheidende Frage aufgeworfen, was mit dem Zahngold Verstorbener nach deren Verbrennung in einem Krematorium geschehen soll. Es geht dabei um sehr viel Geld.

Aus rechtsstaatlicher Sicht war der Fall für die Verteidigung eine Herausforderung, da hier in besonderer Weise deutlich wird, dass nicht jedes Verhalten, das moralisch fragwürdig ist, auch strafbar ist.

Nach dem Grundgesetz markiert der mögliche Wortsinn eines Strafgesetzes die äußerste Grenze der Strafbarkeit (Art. 103 II GG). Dieses so genannte Analogieverbot stellt einen der wichtigsten Grund­sätze des Strafrechts dar. Es sichert die Gewaltenteilung und stellt sicher, dass die Gerichte sich an die Regeln des Rechts halten. Der Einfluss politischer Interessen auf die Rechtsprechung soll eingedämmt werden. Ein Rechtsstaat hat es in Kauf zu nehmen, dass nicht alles strafbar ist, was strafwürdig erscheint. Man spricht in diesem Zusammenhang auch vom „fragmentarischen Charakter des Strafrechts“.

Bemerkenswert an dem Fall war, dass fünf verschiedene Gerichte zu jeweils unterschiedlichen Ergebnissen gekommen waren. Zunächst hatte das AG Hof über einen sehr ähnlich gelagerten Fall zu entscheiden. Es sprach die dortigen Angeklagten frei. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft hin verurteile das OLG Bamberg dann aber doch. Es sah den Tatbestand der Störung der Totenruhe (§ 168 StGB) erfüllt.

In Nürnberg wurden die Angeklagten im parallel gelagerten Fall in erster Instanz durch das Amtsgericht zunächst wegen Diebstahls verurteilt. In zweiter Instanz erfolgte ein Freispruch wegen Diebstahls – das Landgericht stellte fest, dass das Gold niemandem gehörte. Es verurteilte gleichwohl, und zwar wegen Störung der Totenruhe und Verwahrungsbruchs. Erst in der Revisionsentscheidung des OLG Nürnberg wurde dann festgestellt, dass es sich bei dem Gold nicht um „Asche“ handelt. Wegen des Vorwurfs der Störung der Totenruhe wurde freigesprochen. Es blieb am Schluss eine (sehr umstrittene) Verurteilung wegen Verwahrungsbruchs.

Die von dem Verteidiger Dr. Rudolph verfasssten Berufungs- und Revisionsschriftsätze können Sie in anonymisierter Form hier bzw. hier einsehen.

Der Fall wurde durch RA Rudolph auch als Klausurbearbeitung für Studenten in der JA Mai 2011 veröffentlicht.