„Aussage gegen Aussage“ – Reicht das für eine Verurteilung?

Die Ausgangslage einer „Aussage gegen Aussage“-Konstellation ist typischerweise eine „Eins zu Eins“-Konfrontation zwischen sich gegenseitig widersprechenden Behauptungen zur angeklagten Tat. Ein Zeuge bekräftigt durch seine Aussage den Tatvorwurf, der Beschuldigte bestreitet den Wahrheitsgehalt der Aussage oder legt eine alternative Sachverhaltsschilderung vor.

Davon zu unterscheiden sind Fälle, in denen neben diesen diametralen Behauptungen weitere belastende Beweise vorliegen. Besonders im Sexualstrafrecht – aber auch bei anderen Delikten, in denen außer dem Beschuldigten und dem mutmaßlichen Opfer häufig keine weiteren tauglichen (Augen- bzw. Ohren-)Zeugen existieren (z.B. Beleidung, Körperverletzung, Nötigung etc.) – ist die Entscheidung, zu wessen Gunsten die sich widersprechenden Aussagen zu werten sind, keine einfache Angelegenheit.

Obwohl bei unklarer Tatsachenlage grundsätzlich im Zweifel für den Angeklagten (in dubio pro reo) entschieden wird, ist es keinesfalls so, dass jede „Aussage gegen Aussage“-Konstellation automatisch zu einem Freispruch führt. Obwohl auf den ersten Blick eine „Patt-Situation“ vorliegt, zieht sich die Rechtsprechung auf eine schwer zu durchblickende und wissenschaftlich angreifbare „Gesamtschau“ zurück.

1. Die Leitlinien der Rechtsprechung

Der Bundesgerichtshof hat in ständiger Rechtsprechung Kriterien formuliert, wie die Aussagen von Zeugen in oben genannten Fällen einzuordnen sind. Ein exemplarisches Urteil des Bundesgerichtshofs vom 07.03.2012 (2 StR 565/11) fasst die Leitlinien wie folgt zusammen:

Erforderlich sind insbesondere eine sorgfältige Inhaltsanalyse der Angaben, eine möglichst genaue Prüfung der Entstehungsgeschichte der belastenden Aussage […], eine Bewertung des feststellbaren Aussagemotivs […] sowie eine Prüfung von Konstanz, Detailliertheit und Plausibilität der Angaben.“

So ist u.a. in die Bewertung einzustellen, ob sich ein geschilderter Sachverhalt vernünftigerweise überhaupt so ereignet haben kann. Überdies werden die fraglichen Aussagen auf ihre Widerspruchsfreiheit und Schlüssigkeit geprüft, ob sie frei dargelegt oder nur fragmentarisch erinnert, konstant wiederholt oder eher auf Nachfrage variabel angepasst werden. Ergänzend konkretisiert der BGH mit Urteil vom 10.10.2012 (5 StR 316/12):

„Steht Aussage gegen Aussage, muss das Tatgericht die Aussagen des einzigen Belastungszeugen einer besonderen Glaubwürdigkeitsprüfung unterziehen. Dies gilt insbesondere, wenn der einzige Belastungszeuge in der Hauptverhandlung seine Vorwürfe ganz oder teilweise nicht mehr aufrechterhält oder der anfänglichen Schilderung weiterer Taten nicht gefolgt wird. Zu berücksichtigen ist, dass dem Angeklagten in dieser Konstellation nur eingeschränkte Verteidigungsmöglichkeiten eröffnet sind.“

Daraus lässt sich schließen, dass die Entscheidungsregel in dubio pro reo nicht automatisch zu Gunsten des Beschuldigten angewendet wird, sondern zunächst eine besonders intensive Würdigung der belastenden Aussagen erfolgen muss. Erst wenn nach dieser Beweiswürdigung weiterhin Zweifel verbleiben, kann zu Gunsten des Beschuldigten angenommen werden, dass die ihn inkriminierende Aussage nicht für eine gesicherte Überzeugung des Gerichts von seiner Schuld hinreicht.

Kritisch ist hieran, dass durch diese eher intuitiv anmutende Würdigung zu keinem Zeitpunkt eine sichere und verlässliche Aussage über den Ausgang des Verfahrens getroffen werden kann. Zwar ist § 261 StPO entsprechend offen formuliert („Über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung“), woraus auch das geflügelte Wort von der „Beweiswürdigung als ureigene Aufgabe des Tatrichters“ herrührt. Überzeugung im Sinne des § 261 StPO liegt nach gefestigter Auffassung des Bundesgerichtshofs jedoch bereits dann vor, wenn „ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit, demgegenüber vernünftige und nicht bloß auf denktheoretische Möglichkeiten gegründete Zweifel nicht mehr aufkommen“ gegeben ist. Aufgrund dieser kryptischen und gleichzeitig trivialen Offenheit der Definition ist die „freie Überzeugung“ gerade bei heiklen und sensiblen Glaubwürdigkeits- und Glaubhaftigkeitsbeurteilungen das größte Einfallstor für Fehlentscheidungen.

2. Mögliche Auswege durch professionelle Strafverteidigung

Die Bewertung der Glaubwürdigkeit von Zeugen und der Glaubhaftigkeit ihrer Aussagen sind Gebiete, in denen Juristen sich auskennen sollten. In Wirklichkeit tun dies aber nur die wenigsten. Viel zu oft wird fundierte Expertise unzureichend durch angebliche „Menschenkenntnis“ ersetzt. Wie gefährlich und kontraproduktiv solches Halbwissen sein kann, zeigt ein Blick auf die zahlreichen sozio-psychologischen Verzerrungsfaktoren, die ein Strafverfahren regelmäßig mit sich bringt. Nicht selten haben Verfahrensbeteiligte daher nach der Verkündung des Urteils den Eindruck, verschiedenen Hauptverhandlungen beigewohnt zu haben. Es verhält sich hier nicht anders als in einer Ehe, in der die Partner auch oft ganz unterschiedliche Erinnerungen an ein und dasselbe Ereignis haben.

Der Strafverteidiger muss das Thema Aussagepsychologie selbst auf die Agenda setzen. Ein professioneller Verteidiger ist psychologisch geschult in der Welt der Sachverständigen ausreichend vernetzt. Der Sachverständige ist in der Lage ein sog. Glaubwürdigkeitsgutachten (auch „Aussagepsychologisches Gutachten“) zu erstellen. Nur auf diese Weise lässt sich die erforderliche Expertise generieren, die dem Mandant die bestmögliche Verteidigung bietet.

Da nach geltendem Verfahrensrecht der Richter einen Antrag auf Einholung eines Sachverständigen zur Überprüfung einer Aussage weiterhin mit der Begründung ablehnen darf, selbst kompetent genug für die Beweiswürdigung zu sein, ist hier ein neuralgischer Punkt jeder „Aussage gegen Aussage“-Konstellation zu sehen.

Nicht weiterführend ist das Vertrauen in einen „Lügendetektortest“, was weniger an dessen prinzipieller Eignung, als vielmehr an der weiterhin von Seiten der Gerichte behaupteten Ungeeignetheit dieser Untersuchungsmethode liegt.

Demzufolge ist es die „ureigene Aufgabe“ des Verteidigers, berechtigte Zweifel an der Glaubhaftigkeit der den Beschuldigten belastenden Aussage zu schüren. Dieses Überzeugen und Beeinflussen des Gerichts ist täglich Brot der Verteidigertätigkeit und zeichnet einen guten Strafverteidiger aus.

Aussage gegen Aussage

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