Akteneinsicht im Strafprozess

Warum ist Akteneinsicht so wichtig?

Das Recht auf Akteneinsicht ist von immenser Bedeutung für die Strafverteidigung. Ohne die Kenntnis des Ermittlungsstandes ist eine sinnvolle Verteidigung nicht möglich. So wie ein Skat- oder Poker-Spieler keine Strategie entwickeln kann, ohne sein eigenes Blatt zu sehen, macht es für einen Strafverteidiger wenig Sinn, ohne Kenntnis des Akteninhalts eine Aussage über den weiteren Verlauf eines Strafverfahrens zu treffen. Alles andere wäre so unseriös wie ein Arzt, der eine Diagnose abgibt, ohne vorher überhaut den Patienten untersucht zu haben.

Gerade weil Zeugen und Ermittler bei der Polizei einen Sachverhalt oft ganz anders wahrnehmen bzw. schildern, als die Beschuldigten, sollte sich ein Rechtsanwalt in aller Regel auch nicht darauf verlassen, was ihm der eigene Mandant schildert. Dies ist kein Zeichen mangelnden Vertrauens, sondern professionelle Erfahrung.

Anders als in vielen Staaten, die ein sogenanntes adversatorisches Strafverfahrensmodells haben (z.B. die USA), findet in Deutschland keine umfassende Offenlegung der Beweismittel vor der Hauptverhandlung (disclosure of evidence) statt. Im deutschen Strafprozess muss der Beschuldigte – respektive sein Rechtsanwalt – durch Einsicht in die Ermittlungsakten den notwendigen Informationsstand selbst nachlesen, um „auf Augenhöhe“ mit den Strafverfolgungsorganen agieren und reagieren zu können.

Das Recht auf Akteneinsicht ist letztlich eine Ausprägung des rechtsstaatlichen Grundsatzes der „Waffengleichheit“. Es gehört zu einem fairen Verfahren, dass der Beschuldigte weiß, was ihm weshalb vorgeworfen wird. Niemand soll schutzlos der Willkür der Staatsmacht ausgeliefert sein.

 Wer entscheidet über Akteneinsicht?

Aktenhoheit hat während des Ermittlungsverfahrens die Staatsanwaltschaft. Diese entscheidet als „Herrin des Ermittlungsverfahrens“ grundsätzlich nach eigenem Ermessen darüber, ob, wann bzw. in welchem Umfang sie dem Verteidiger die Akten zur Einsichtnahme herausgibt.

Nach Erhebung einer Anklage ist das dann Gericht bzw. der Vorsitzende Richter zuständig, darüber zu entscheiden, an wen und wie die Strafakten herausgegeben werden.

Die Handhabe der Akteneinsicht durch die Strafverfolgungsorgane stellt ein scharfes Schwert dar, mit dem die prozessuale Waffengleichheit zugunsten der Strafverfolgung und zu Lasten des Beschuldigten beeinflusst werden kann. Das Privileg der Richter und Staatsanwälte, über die Akteneinsicht zu entscheiden, darf nicht missbraucht werden.

In Einzelfällen kommt es immer wieder zu Streit, da frühzeitige Akteneinsicht ein Schlüssel für eine effiziente und erfolgreiche Strafverteidigung ist.

Berechtigter Personenkreis

Der Kreis derjenigen, die ein Recht auf Akteneinsicht im Strafverfahren haben, ist begrenzt. Das Akteneinsichtsrecht kann nach § 147 Abs. 1 StPO vom Verteidiger oder nach § 147 Abs. 4 Satz 1 StPO vom unverteidigten Beschuldigten in allen Stadien des Strafverfahrens durch Antrag wahrgenommen werden.

In der Regel erhält der Strafverteidiger die Gelegenheit die Ermittlungsakte in seinen Büroräumen zu kopieren und dem Mandanten ebenfalls Einsicht zu gewähren bzw. Ablichtungen der Akte für diesen anzufertigen.

Auch Opfer von Straftaten können im Rahmen einer Nebenklage über ihren Anwalt Einsicht in die Ermittlungsakte nehmen. Für den Verletzten ergibt sich das Recht auf Akteneinsicht aus § 406e StPO. Das Recht auf Akteneinsicht des unverteidigten Beschuldigten ist auf Druck der Rechtsprechung des EGMR dem Recht der Verteidigung auf Akteneinsicht angeglichen worden.

Durchführung der Akteneinsicht

Spätestens nach Abschluss der Ermittlungen bzw. ab Anklageerhebung sind dem Strafverteidiger in Bezug auf das Strafverfahren dieselben Informationen zur Verfügung zu stellen, wie sie der Staatsanwaltschaft und dem Gericht zur Verfügung stehen.

Die Einsicht in die Vernehmungsprotokolle des Beschuldigten und über solche richterlichen Untersuchungshandlungen, bei denen dem Verteidiger die Anwesenheit gestattet worden ist oder hätte gestattet werden müssen, sowie in die Gutachten von Sachverständigen darf dem Verteidiger in keiner Lage des Verfahrens versagt werden (§ 147 Abs. 3 StPO).

Häufig ist Akteneinsicht bzw. die Einsicht in bestimmte Aktenteile nur auf der Dienststelle der Ermittlungsbeamten oder der Staatsanwaltschaft möglich. Je nach Fallkonstellation (und Vertrauensverhältnis) werden die Akten jedoch zum Zwecke der Einsicht und zur Erstellung von Kopien auch an den Kanzleiort des Verteidigers versendet. Ausnahmen gelten dann, wenn die Akten Informationen oder Inhalte enthalten, die nicht verbreitet werden dürfen, beispielsweise Kinderpornografie oder Informationen über bevorstehende Verhaftungen.

In aller Regel ist ein Verteidiger berechtigt (und auch verpflichtet), seinem Mandanten Kopien der Akten bzw. elektronische Scans auf einem Datenträger zur Verfügung zu stellen.

Kann ich auch ohne Verteidiger Einblick in die Ermittlungsakte erhalten?

Für den nicht verteidigten Beschuldigten sieht § 147 Abs. 4 StPO ein eigenes Auskunftsrecht vor. Dieses ist jedoch nicht so weit gefasst wie das umfassende Akteneinsichtsrecht des Verteidigers.

Die Akteneinsicht des Beschuldigten erfolgt i.d.R. unter amtlicher Aufsicht, soweit schutzwürdige Interessen Dritter nicht entgegenstehen. Werden die Akten nicht elektronisch geführt, können Kopien aus den Akten bereitgestellt werden.

Inhalt der Strafakten

Bestandteil der Ermittlungsakte sind das gesammelte Beweismaterial, das heißt alle be- und entlastenden Schriftstücke, Vernehmungsprotokolle von Zeugen, Aktenvermerke von Polizeibeamten, behördeninterne Verfügungen, handschriftliche Vermerke, Arbeitsanweisungen, vorläufige Einschätzungen der Staatsanwaltschaft sowie der aktuelle Auszug aus dem Bundeszentralregister. Daneben gehören auch beigezogene Akten aus Verwaltungs- oder Zivilverfahren sowie Video-, Bild-, Tonaufnahmen und Computerdateien zum Inhalt der Ermittlungsakte.

Die Einsicht in die Ermittlungsakte dient dem Strafverteidiger in erster Linie zur Informationsbeschaffung und zur Ausarbeitung der Verteidigungsstrategie. Entscheidende Weichenstellungen werden im Rahmen einer effektiven Strafverteidigung bereits vor Anklageerhebung gestellt. Stellungnahmen des Strafverteidigers im Ermittlungsverfahren sollten ausschließlich nach gewährter Akteneinsicht erfolgen und können in vielen Fällen zur Einstellung des Verfahrens führen. Der Beschuldigte eines Strafverfahrens sollte sich grundsätzlich in einer Vernehmung nicht zur Sache einlassen ohne dies nach gewährter Akteneinsicht mit dem Verteidiger abzustimmen.

Eine professionelle Lektüre der Akte ist aufschlussreich. Oftmals vermögen kurze handschriftliche Vermerke eines Staatsanwalts in der Akte, die einem juristischen Laien unwichtig erscheinen, dem Verteidiger mehr Informationen zu vermitteln, als seitenweise offizielle Beschlüsse.

Elektronisch geführte Akten: § 32 f StPO

Für elektronisch geführte Akten enthält § 32 f StPO seit Anfang 2018 eine Sondervorschrift. Einsicht in elektronische Akten kann demnach durch Bereitstellen des Inhalts der Akte zum Abruf gewährt werden. In besonderen Fällen kann auch die Herausgabe eines Aktenausdrucks oder eines Datenträgers mit dem Inhalt der elektronischen Akten beantragt werden.

Durch technische und organisatorische Maßnahmen hat die Kanzlei des Verteidigers zu gewährleisten, dass Dritte im Rahmen der Akteneinsicht keine Kenntnis vom Akteninhalt nehmen können. Eingescannte Akten sollten daher nur mit verschlüsselten PDF-Dateien verschickt an den Mandanten werden.

Der Kampf um Akteneinsicht

Ein unbeschränktes Akteneinsichtsrecht des Strafverteidigers besteht nicht von Beginn des Strafverfahrens an, sondern erst, nachdem die Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungen abgeschlossen hat (Abschlussvermerk gem. § 169a StPO). Ist der Abschluss der Ermittlungen noch nicht in den Akten vermerkt, kann dem Verteidiger die Einsicht in die Akten oder einzelne Aktenteile sowie die Besichtigung von amtlich verwahrten Beweisgegenständen versagt werden, wenn dies – nach Ansicht der Strafverfolger – den Untersuchungszweck gefährden kann (§ 147 Abs. 2 S. 2 StPO).

Bei besonders schwerwiegenden Maßnahmen gegen den Beschuldigten im Rahmen des Ermittlungsverfahrens, wie insbesondere der Anordnung von Untersuchungshaft oder der vorläufigen Beschlagnahme von Vermögen (Vermögensarrest) ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sowie des Bundesverfassungsgerichts  dem Verteidiger jedenfalls Einsicht in die Aktenbestandteile zu gewähren, die für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Maßnahme wesentlich sind.

Hintergrund für diese Rechtsprechung der obersten Gerichte, die für den Schutz der Grundrechte zuständig sind, ist der Grundsatz rechtlichen Gehörs, der jedenfalls bei schwerwiegenden Grundrechtseingriffen zum Tragen kommt: Es wäre mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht vereinbar, wenn man wir in einem Roman von Franz Kafka festgenommen wird, ohne zu wissen, weshalb.

Werden Eingriffsmaßnahmen vom Gericht im strafprozessualen Ermittlungsverfahren ohne vorherige Anhörung des Betroffenen angeordnet, muss das rechtliche Gehör jedenfalls nachträglich im Beschwerdeverfahren gewährt werden. Zum Anspruch auf rechtliches Gehör vor Gericht gehört auch die Information über die entscheidungserheblichen Beweismittel (BVerfG vom 05.05.2004; Az. 2 BVR 1012/02).

Sehr umstritten ist aktuell die Frage, ob die Grundsätze, die für Verhaftungen und Vermögensarreste entwickelt wurden, auch auf richterlich angeordnete Durchsuchungs- bzw. Beschlagnahmemaßnahmen anwendbar sind.

Dieses Problem stellt sich besonders häufig in Steuerstrafverfahren bzw. beim Vorwurf der Hinterziehung von Sozialversicherungsbeiträgen (§ 266a StGB). Dies Verfahren zeichnen sich dadurch aus, dass – zumindest im frühen Stadium der Ermittlungen – nicht die Staatsanwaltschaft federführend ist, sondern andere Behörden mitspielen, nämlich die Steuerfahndung und die Zollbehörden.

Das Bundesverfassungsgericht hat sich bereits mit der Frage der Akteneinsicht nach einer Durchsuchung befasst. In einer Entscheidung vom 04.12.2006 (Az. 2 BvR 1290/05 = NStZ 2007, S. 274) hat es klargestellt, dass bei einer Beschwerde gegen die Durchsuchung eine gerichtliche Entscheidung darüber zumindest nicht so lange ergehen darf, bevor die zunächst verwehrte Akteneinsicht gewährt wurde und der Beschwerdeführer sich zum Akteninhalt äußern konnte.

Wie lange ein Beschwerdegericht seine Entscheidung zurückstellen darf, ist verfassungsrechtlich noch nicht geklärt. Sicher ist, dass eine Zurückstellung der Beschwerdeentscheidung nicht grenzenlos zulässig ist. Denn durch ein solches Vorgehen würde die Grundrechte des Betroffenen auf rechtliches Gehör und ein faires Verfahren faktisch unterlaufen.

Praxis der Ermittlungsbehörden

Es entspricht der gängigen Praxis der meisten Staatsanwälte, der Verteidigung zumindest die entscheidungserheblichen Aktenteile nach einer Durchsuchung bzw. Beschlagnahme zeitnah zu überlassen. In aller Regel kommt man durch ein persönliches Gespräch schneller ans Ziel, als mit der Keule des Verfassungsrechts.

Weigern sich Behörden jedoch beharrlich, aus sachfremden Erwägungen dem Verteidiger die Akten herauszugeben, so sollte dieser das strafprozessuale Handwerkszeug beherrschen und benutzen, Akteneinsicht gerichtlich zu erzwingen.

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